Höllische Paradiese. Moralisches (?)
Theater bei Friedrich Schiller und Dea Loher
Andreas Gürtler / Angela M. C. Wendt
Universität Mannheim
Abstract

In an interview, Loher refers to Schiller's early concept of the "theatre as a moral institution." Yet this cliché is problematic since it has been decontextualised. This essay argues that Loher is concerned with the aesthetics of the late Schiller, and it draws attention to the fact that Schiller never put his idea of a moral institution into practice. (AG, AMCW; in German)

"[. . .] Theater als moralische Anstalt? Ja. Unbedingt. Was sonst."1

Wenn aber sozusagen die Scham über die eigene und kollektive vorgebliche Hilflosigkeit umschlägt in das Anerkennen einer Verpflichtung zum ethischen—oder im Schillerschen Sinn moralischen—Handeln, dann könnte sich das Theater des Moralisierens entledigen und würde frei für Moral. Also das Theater als moralische Anstalt. Ja. Unbedingt. Was sonst.2

Die Rede vom Theater als "moralische Anstalt" ist (nicht nur in Germanistenkreisen) zu einer sinnentleerten Floskel verkommen3 —nicht ganz zu Unrecht, denn schon bei Friedrich Schiller ist der Begriff, wie sich zeigen wird, problematisch und tatsächlich als Konzept von ihm nie umgesetzt worden. Außerdem ist die Abhandlung als Text nicht sonderlich gut gelungen. Der Schiller-Biograph Rüdiger Safranski meint gar, Schiller habe in dieser Rede des Guten zuviel" getan. Jedoch habe mit "soviel Pathos und Entschlossenheit bisher noch keiner den gesellschaftspolitischen und moralischen Nutzen der Schaubühne herausgestellt". In der Rede, so Safranski weiter, gebe der junge Autor "eine eindrucksvolle Probe seines Hangs zur Vergrößerung bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Rolle des Theaters, und man kann ihn dabei beobachten, wie er vom eigenen Schwung mitgerissen wird".4

Man muss sich tatsächlich fragen, wie ernst es Schiller mit seinem "zur Schau gestellten Optimismus" war. Glaubte er tatsächlich, "dass Fürsten aus Unkenntnis am Volk vorbeiregierten und, wenn sie als eifrige Theaterbesucher Kenntnisse erwürben, die Fehler ihrer Herrschaft korrigierten"?5

Der Text wurde von Schillers Zeitgenossen mit wenig Begeisterung aufgenommen. In der späteren Rezeption war ebenfalls nicht allzu große Anerkennung für den Autor, ja sogar Hohn und Spott dabei. Friedrich Nietzsche bezeichnet Schiller in Anlehnung an Viktor von Scheffels Der Trompeter von Säckingen (1854) gar als "Moral-Trompeter von Säckingen".6

In Schillers Mannheimer Rede mit dem Titel Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?7 arbeitet er das Konzept vom Theater [End Page 346] als "moralische Anstalt" heraus. Seine Zuhörer waren die Honoratioren der Kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft, die er für sich gewinnen wollte. Die Rede sollte außerdem die nachträgliche Rechtfertigung für sein umstrittenes Erstlingswerk Die Räuber liefern, das besonders durch die Darstellung des Franz dem Vorwurf der Amoralität ausgesetzt war. Letztlich steht sie auch im Kontext der vom Intendanten des Mannheimer Nationaltheaters, Wolfgang Heribert von Dalberg, geforderten mehrfachen Bearbeitung (und Entschärfung) der ursprünglichen Räuber-Fassung. In der späteren Veröffentlichung in der von Schiller herausgegebenen Thalia unterließ er es folgerichtig, seine Thesen durch Beispiele aus den Räubern zu stützen.

Das opportunistische Konzept des "frühen" Schiller ist mit dem des "Klassikers" nicht mehr in Einklang zu bringen, genauso wenig wie mit dem Theater von Dea Loher. In den Schriften des "späten" Schiller, insbesondere in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen (1795 erschienen in den Horen) sowie in den dramaturgischen Abhandlungen und Vom Erhabenen (1793 erschienen in der Neuen Thalia), Über das Erhabene (Erstdruck 1801) und Über das Pathetische (1801 erschienen in der Neuen Thalia) formuliert er ein ganz anderes, nunmehr ästhetisch fundiertes Programm. Setzte der "frühe" Schiller noch bei den Idealen der Aufklärung an, für die die Rechtfertigung der Kunst in ihrer Moralität liegt, führt beim "Klassiker" Schiller der Weg zur Moral über die Ästhetik, wobei die Moral als explizite Forderung an die Kunst zunächst ausgeklammert wird (Autonomie-Ästhetik).

Im Folgenden wird gezeigt, dass die Überlegungen aus Schillers Mannheimer Zeit auf die Gegenwartsautorin Dea Loher nicht anwendbar sind, auch wenn sie sich selbst auf das "Theater als moralische Anstalt" beruft.

Schillers "moralische Anstalt"

Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an,
wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt.8

Der Kontext für die Entstehung von Schillers Mannheimer Rede spielt eine entscheidende Rolle für die darin vertretenen Inhalte. Die Kurpfälzische Deutsche Gesellschaft wurde von Kurfürst Carl Theodor 1775 nach dem Vorbild der Académie française begründet. Die Zielsetzung bestand unter anderem darin, die deutsche Sprache und Kultur zu pflegen und zu fördern. Der französische Einfluss auf die deutsche Kultur sollte gemindert werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Entstehung des Mannheimer Nationaltheaters zu sehen.

Schiller erhoffte sich durch seine Aufnahme in die Kurpfälzische Deutsche Gesellschaft (1783), der unter anderem Christoph Martin Wieland, Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Gottlieb Klopstock, Wolfgang Heribert und sein Bruder Carl Theodor von Dalberg angehörten, als kurpfälzischer Untertan [End Page 347] anerkannt zu werden und alle Bürgerrechte der Stadt Mannheim zu genießen. Dadurch hoffte der aus den Diensten Carl Eugens von Württemberg geflüchtete Schriftsteller auf eine dauerhafte Bleibe und Anstellung in Mannheim.9

Die Rede schließt an eine Kontroverse an, die im 18. Jahrhundert in Deutschland, Frankreich und England in Gange war. Seit Jean-Jacques Rousseaus Lettre à d'Alembert sur les spectacles (1758) befanden sich die Verteidiger des Theaters in der Defensive, da der Brief der Bühne gegenüber den Vorwurf erhebt, dass sie die Sitten ruiniere. Eine neue Begründung des Theaters wurde deshalb notwendig, an der sich Autoren wie Johann Christoph Gottsched oder auch Johann Wolfgang Goethe versuchten. Schiller wird eine neue theoretische Begründung der Bühne allerdings erst Jahre später in den bereits erwähnten Schriften liefern.

Der 25-Jährige argumentiert hingegen noch in der Tradition der Aufklärung, derzufolge die Rechtfertigung des Theaters durch die von ihm vertretene Moral erfolgt und nicht durch ästhetische Kriterien. Für ihn besteht die "höchste und letzte Forderung, welche der Philosoph und Gesetzgeber einer öffentlichen Anstalt nur machen können" darin, "unwidersprechlich [zu] beweisen, daß die Schaubühne Menschen- und Volksbildung" bewirkt.10

Mit dem Begriff des "mittleren Zustands" nimmt Schiller den Grundgedanken seiner späteren Ästhetik vorweg.11 Unter "mittlerem Zustand", der den Ausgleich schafft zwischen der Triebnatur des Menschen und der als Vernunfts- und Verstandeswesen, versteht er folgendes:

Unsere Natur, gleich unfähig länger im Zustand des Tiers fortzudauern, als die feinern Arbeiten des Verstandes fortzusetzen, verlangte einen mittleren Zustand, der beide widersprechenden Enden vereinigte, die harte Spannung zu sanfter Harmonie herabstimmte, und den wechselweisen Übergang eines Zustands in den anderen erleichterte. Diesen Nutzen leistet überhaupt nur der ästhetische Sinn oder das Gefühl für das Schöne.12

In der Rede rechtfertigt Schiller das Theater allerdings dadurch, dass der Gesetzgeber das Theater für seine Zwecke nutzen kann, auch wenn er dies idealistisch verstanden wissen will. Er geht in seiner Argumentation so weit, die Rechtfertigung und Wirkung der Bühne mit der der Kirche zu vergleichen. Die politischen Gesetze sind unzulänglich, da sie von "schwankender Eigenschaft sind" und sich nur um "verneinende Pflichten"13 drehen:

Gesetze hemmen nur Wirkungen, die den Zusammenhang der Gesellschaft auflösen—Religion befiehlt solche, die ihn inniger machen.14

Sie wirkt bis "in die verborgenen Winkel des Herzens". Sind Gesetze "wandelbar wie Launen und Leidenschaft", bindet Religion "streng und ewig" und wird gerade "durch das Sinnliche allein so unfehlbar".15 Die Religion wirkt dadurch auf den Menschen, da sie ihre Moral in Bildern transportiert. Dies ist [End Page 348] eine Gemeinsamkeit mit dem Theater, das die Religion dadurch noch überbietet, dass es ganz konkret und unmittelbar "bewegte Bilder" vor die Augen der Zuschauer stellt. Die Bühne wird deshalb zum wirkungsmächtigsten Medium der Moral.

Den von Dea Loher selbst hergestellten und in Rezensionen und Interpretationen gerne aufgegriffenen Bezug zu Schillers Diktum vom Theater als "moralische Anstalt" löst sie in ihren Theaterstücken nicht ein. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass ihr Moralverständnis sich grundlegend von dem Schillers unterscheidet. Während es in seiner Mannheimer Rede um die Bestätigung einer "gemeinen" Moral und den Konsens mit dem Zuschauer geht,16 lehnt Dea Loher, wie nachfolgend gezeigt wird, genau dies ab.

Adams Leiden an der Geistlosigkeit der Welt

In Adam Geist (1998) wirken gerade die religiösen Bilder nicht mehr sinnstiftend, sondern entfalten eine verstörende, wenn nicht gar zerstörende Wirkung. In diesem Drama verbrennt das Licht der Aufklärung seine eigenen Kinder. Das Stück stellt die Heilsgeschichte nicht nur in Frage, es nimmt sie geradezu zurück. Der Protagonist mit dem sprechenden Namen Adam Geist (auf den später noch einzugehen sein wird) ist ein "Geist", der in Umkehrung zu Mephisto, stets das Gute will und doch das Böse schafft. Während bei Goethe—im Rückgriff auf das barocke Welttheater—Mephisto der Geist ist, der "stets das Böse will und doch das Gute schafft", weil ein Gott ist, der den guten Ausgang garantiert, existiert diese oberste Instanz bei Dea Loher nicht mehr oder ist zumindest nicht als solche zu erkennen und schon gar nicht zu erreichen.

Rose Geist, Adams Mutter, ist zu Beginn des Stückes bereits tot. "Es war die Sonne",17 die ihren Körper zerstört hat. Der Hautkrebs, eine Folge exzessiver Sonnenanbetung, hat ihre Haut in tödlicher Weise verunstaltet:

[. . .] faustgroße Beulen, Geschwüre, knotige Anhäufungen wucherten unter der Hautdecke, schlangen sich um ihren Körper, daß er eingewickelt schien in ein Fischernetz. Ein kleines Drücken, und sie schrie vor Schmerz.

(9)

Sie wurde von der Sonne verbrannt und vom Krebs zerfressen.

Der Tod der Mutter ist für Adam der Anlass, nach seinem Vater zu fragen. Doch niemand hat eine Antwort:

ADAM: Wer ist mein Vater?
[. . .]
ADAM: Ich hab es nie erfahren. Ich hab nie gefragt. Es hat nie einer darüber geredet.
Jetzt möchte ich wissen, wer mein Vater ist.
ONKEL: Das wissen wir auch nicht. [End Page 349]
ADAM: Ihr Schweine.
ONKEL: Ich schwöre.
ADAM: Ihr lügt.
TANTE: Bei der Muttergottes.
(15)

Wie Rose Geist zum Kind kam, erfährt weder ihr Sohn noch der Zuschauer. Ein Geheimnis schwebt über der Geburt des Menschen Adam. Die Position des Vaters ist im Stück eine Leerstelle, genau wie die Gottes. Dies legt die Vermutung nahe, dass Gott und Vater, Gott Vater, in eins zu setzen sind, was im Text auch tatsächlich geschieht. Mutter Rose wird zur "Muttergottes", die bei der Frage nach dem Vater auch angerufen wird. Gott ist "das Licht der Welt",18 und eben dieses hat sie empfangen, als sie empfangen hat. Durch das Licht aber, nämlich das Sonnenlicht, wird sie zerstört. In ihr ist nicht nur das Kind, bzw. der Mensch Adam, herangewachsen, sondern auch die tödlich wuchernden Krebsgeschwüre. Auch der Sohn, den sie in die Welt gesetzt hat, ist ein Krebsgeschwür für die Welt, denn er bringt Tod und Zerstörung.

Das "Fischernetz" (9) aus Krebszellen zerstört ihren lebendigen Körper. Während der Fischer Petrus mit Jesus als Menschenfischer tätig wird und predigt, dass Gott das Leben ist, ist das Netz um Roses Körper ein tödliches; sie wird selbst darin gefangen. Zwar lebt das Netz aus Krebsgeschwüren, aber wer darin gefangen ist, gewinnt darin nicht das ewige Leben, sondern den Tod.

Rose Geist ist aber nicht nur Mutter Maria, sondern auch Semele, die den Göttervater Zeus in seiner wahren Gestalt sieht und deshalb sterben muss, jedoch nicht, ohne ihm ein Kind, Dionysos, zu gebären. Adam Geist ist damit dreierlei: Christus, der Erlöser, Dionysos, der Gott der Entgrenzung und des Rausches, aber auch Adam, der schuldige, leidende und sterbliche Mensch, der von Gott aus dem Paradies vertrieben worden ist.

Adam Geist ist bei Dea Loher zunächst einmal der an seiner Schuld Leidende, der kein Dionysos sein will und kein Christus sein kann. Er tötet, was er liebt: das Mädchen auf dem Friedhof, den Fremdenlegionär Erich, und auch am Tod des Indianers Karl trägt er Mitschuld. Adam tötet im dionysischen Rausch, wird nach dem Mord an dem Mädchen "bewußtlos" (40). Liebe und Tod, Eros und Thanatos, sind unlösbar miteinander verknüpft. Er schneidet sich die Pulsadern auf, wird aber gerettet und in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Bezeichnenderweise trägt diese Szene den Titel "Zum Licht" (41). Diese Szene und die vorangehende, mit "Genialität" (30) bezeichnete, spielen auf das zu Grunde liegende Paradigma von Genie und Wahnsinn an: Genialität ist nichts weiter als das Überschreiten der Grenzen der Normalität, und damit auch der Moral. Wenn die Gesetze des Alltags aufgehoben sind, dann kann frei geliebt, aber auch gemordet werden. Mit der Aufhebung jeglicher Begrenzung scheint aber auch der Weg zu Gott, "zum Licht", möglich zu werden. Dieser Weg wird aber abgeschnitten durch Adams Einlieferung in [End Page 350] die Psychiatrie—auch dies ein Ort der Entgrenzung und der Aufhebung des Normalen und der Norm.

Die Entgrenzung, die in die Nähe des Todes führt, ist aber gleichzeitig eine Suche nach Gott, wie es vom Legionskandidaten in Szene 11 ("Präriehunde") formuliert wird:

Ich möchte gerne an der Seite des Todes sein. Das Leben, das Leben ist nicht gemacht, um schön zu sein, sondern um Leben zu sein. Leben aber wird es erst durch die Nähe des Todes. Selbst wenn das Leben so schön und so herrlich ist, so ist es doch begrenzt. Totsein heißt unbegrenzt sein. Unsere Seele wird erst in ihre Existenz gerufen durch das gefühlte Wissen des Todes. Sehen Sie, Seele ist Reflexion. Die Reflexion des Unbekannten vor allem. Das Bekannte ist schon verstellt durch unsere Bedürfnisse. Das Unbekannte ist das Wirkliche. Wenn wir an Dinge denken, die uns möglich scheinen, weil sie noch nicht bekannt sind, werden wir Götter.

(71)

Dagegen will Adam, "das Ebenbild Gottes" (116), nicht selbst ein Gott sein, sondern beharrt auf seiner Erlösungsbedürftigkeit. Er verflucht den Gott, der ihm nicht hilft, aber damit auch sich selbst als eben dieses "Ebenbild Gottes". Seine Suche nach einer anderen Autorität, die an die Stelle Gottes treten könnte, scheitert auf verschiedenen Ebenen: Die Mutter ist tot, der Vater nicht vorhanden, der Indianer, der "rettende Engel" (48), stirbt, der Bundespräsident kann ihm keine "Gnade" (so der Titel der 21. Szene, 117) gewähren, weil er offensichtlich "nicht zuständig" (118) für Adam ist. So legt er sein Schicksal in die Hand der einzig verbleibenden Autorität: der des Todes, die aber selbst sinnlos ist. Jeglicher Sinn, wie die letzte Szene "Ohne Titel" (119 ff.) zeigt, entzieht sich uns. Dieser ist allenfalls für andere, die einen Standpunkt außerhalb unseres Sonnensystems innehaben, gegeben:

Da haben sie ein Raumschiff gebaut
Voyager
und es hinausgeschickt
in den Weltraum im Jahr 2018 heißt es
wird es unser Sonnensystem verlassen
keine Geräte an Bord werden dann mehr
funktionieren
aber das Schiff wird weiterfliegen
durch die unendlichen Sterne
von denen wir nicht einmal ein Bild haben
aber außen an dem Raumschiff haben sie
eine Platte befestigt
eine Schallplatte aus goldenem Kupfer
so daß sie Millionen Jahre überleben kann
und da sind Nachrichten drauf von unserem [End Page 351]
Planeten
[. . .]
wenn es vernünftige Lebewesen gibt
außerhalb dieses Sonnensystems
dann erfahren sie vielleicht von uns
fern in der Zukunft
und sie werden uns erkennen
und verglühen werden wir
im Feuer ihrer Vernunft

ob das ein Trost ist
vielleicht

Er erhängt sich.
(120 f.)

Jenseits von Schiller, Brecht und Postmoderne

Schiller fordert in seiner Mannheimer Schaubühnen-Rede vom Theater, eine für den Zuschauer zustimmungspflichtige Moral zu formulieren, die obendrein eine gesellschafts- bzw. herrschaftsstützende Funktion ausübt. Im Gegenwartstheater allgemein, und damit auch bei Dea Loher, stellt sich dies ganz anders dar. Die Erwartungshaltung an die Institution Theater und damit an die Theaterautoren ist heute eine ganz andere als zu Lebzeiten Schillers. Es herrscht zum einen nicht mehr die Aufbruchstimmung wie im 18. Jahrhundert zur Zeit der Konstituierung des Bürgertums, dem das Theater als Sprachrohr diente (bürgerliches Trauerspiel, Nationaltheater-Gedanke, Gottscheds Theaterreform etc.). Zum anderen steht das Theater heute in Konkurrenz zu anderen Medien, allen voran dem Film.19 Durch den Film haben wir uns an die Darstellung von Gewalt gewöhnt. Gewaltexzesse werden in der Regel von einem Schurken begangen, der vom Helden besiegt werden muss. Im Auftrag des Guten wendet dieser aber ebenfalls Gewalt an, die jedoch durch die Wiederherstellung der beschädigten moralischen Ordnung gerechtfertigt wird.

An die Gewalt jedoch haben wir uns trotzdem gewöhnt; die Grenzen unserer Empörung haben sich verschoben. Hollywood und die Filmindustrie müssen schon tief in die Trickkiste greifen, um uns noch ernsthaft schocken zu können. Mit "naiver" Moral kann und will sich Theater, das einen intellektuellen Anspruch hat, im Gegensatz zum Film nicht zufrieden geben, glaubt aber auf die veränderten Sehgewohnheiten reagieren zu müssen. Dies kann vor allem durch eine übertriebene Darstellung der Gewalt mit viel Theaterblut geschehen oder durch ihre Verballhornung in Form einer grotesken Überzeichnung. Das moderne Theater also zeigt Gewalt, ohne diese durch eine "naive" Moral abzufangen, wie dies im Film geschieht. Eine sie bändigende Moral wäre kitschig, weil wir an deren Begründung und Wirksamkeit [End Page 352] nicht mehr glauben können. Die Nicht-Darstellbarkeit von Moral schafft im zeitgenössischen Theater Leerstellen, die, sofern der Zuschauer sich auf sie einlässt, von ihm gefüllt werden können.20 Das heißt, es gibt keine "kollektive", sondern vielmehr eine "individuelle" moralische Haltung. Darüber hinaus macht ein Autor in seinen Texten selten ein moralisches Angebot. Auf Gewaltdarstellungen auf der Bühne reagiert der Zuschauer genervt, er verlangt, etwas Schönes oder Unterhaltsames für sein Geld zu sehen. Wird seine Erwartungshaltung aber enttäuscht, empört er sich meist recht heftig—nicht wenige Briefe an die Theater sind ein Spiegel davon und so manches Abonnement ist auf Grund dessen gekündigt worden. Aber genau durch die Empörung wird der Zuschauer genötigt, eine moralische Position gegen die Gewalt zu beziehen. Wenn dagegen eine moralische Position direkt auf der Bühne gezeigt wird, fühlt sich der Zuschauer meist auch persönlich angegriffen. So ist er (indirekt) aufgefordert, Gründe dafür zu finden, warum er Gewalt ablehnt und seine eigene Position zu überprüfen. Dies muss nicht bewusst geschehen—kann aber. Die Empörung wird im Austausch mit anderen kundgetan und muss dabei begründet werden. Theater ist damit Stein des Anstoßes zum Meinungsaustausch. Moralisieren kann Theater demnach nicht mehr auf "direktem" Weg, sondern nur noch, indem es eine Reaktion aus dem Zuschauer "herauskitzelt".

Schiller war es noch möglich, ein moralisches Theater zu fordern, das Täter verurteilt. Als Beispiel führt er in der Schaubühnen-Rede Franz Moor an. Moralische Urteile spricht, so Schiller, die Bühne ganz direkt aus. Franz wird als Bösewicht bis in die letzte Konsequenz gezeigt. Genau dies geschieht bei Dea Loher nicht. Sie will für Adam Geist beim Zuschauer Verständnis erwecken und verurteilt ihn gerade deshalb nicht. Es geht ihr vielmehr darum, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen und damit die Gründe für Adam Geists Gewalttaten zu erklären. Sie versucht sich bewusst von der "postmodernen Orientierungslosigkeit" abzuheben, aber auch von einem Theater in der Tradition Bertolt Brechts, das von der Annahme ausgeht, dass sich die Welt durch verallgemeinerbare rationale Strukturen erklären lasse. Da heißt: Loher möchte nicht wie Brecht aus der Position des Wissenden schreiben, aber sich auch nicht in der erwähnten "postmodernen Orientierungslosigkeit"21 verlieren.

In einem Brief an Ulrich Khuon formuliert Dea Loher ihre Vorstellung vom Theater folgendermaßen:

Lieber Ulli,

ich habe all diese Legitimationsfragen so satt. Politikerfragen.

Es gibt aber keine Legitimation für die Kunst außer der persönlichen Notwendigkeit, zu tun, was man tun zu müssen glaubt. [. . .] Einem Am-Rande-Stehen und trotzdem irgendwie Dazugehören-Wollen. Einer Lust an Zerstörung und Neuschaffen, die manchmal die pure Lust am Leben ist. Einer Freude am [End Page 353] Gelingen. Einer Suche nach Momenten, die vollkommen sein wollen und in ihrer Flüchtigkeit erotisch werden. Einem fehlgeleiteten Begehren. Einer Sehnsucht nach Veränderung und dem Nichtwissen, wie und wohin.

Dies alles in der vielleicht vergeblichen Hoffnung, es gebe ein paar Menschen, die das, was man da hervorbringt, erkennen, und die dieses Erkennen schmerzt und beglückt. Für das Vorhandensein von Kunst bezahlen die, die sie schaffen. Für ihr Nicht-Vorhandensein werden wir alle bezahlen.

Es grüßt Dich herzlich

Deine Dea22

Mit dem "frühen" Schiller hat dies alles dann doch recht wenig zu tun, denn ihm geht es ja gerade um die Legitimation des Theaters.

Dea Loher will Theater als "ein relevantes lebendiges soziales Forum zurückgewinnen", in das auch die "großen Fragen zurückgeholt werden". Dabei werden jedoch die eigentlich politischen Fragen, wie "Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, Strahlenverseuchung"23 ausgeklammert. Hingegen rückt sie die großen Themen des Mythos und der Tragödie, "Gewalt, Schuld, Verrat, Freiheit", in den Mittelpunkt ihres Interesses. Es geht ihr nicht um "Sozialreportage", sondern um "Tragödie".24 Sie will der "unverbindlichen Zerstreuungsindustrie"25 Kontra bieten. Wie dies zu geschehen habe, bleibt in den Stellungsnahmen von ihr und zu ihr allerdings erstaunlich offen.

Trotz der Darstellung einer hoffnungslosen Welt in ihren Dramen, die ihr den Vorwurf des "Utopieverlust[es]" eingehandelt haben, träumen ihre dramatis personae, wie sie in einem Interview betont, noch den "Traum von einer gerechteren, glücklicheren Welt".26 Dieser Ansatz steht deutlich im Gegensatz zu Brecht, der die Moral noch auf eine allgemein verbindliche rationale Basis stellen will. Brecht will, dass das Theater zu konkretem gesellschaftlichem Handeln führt. Sein Theater erstellt deshalb ein Modell der Wirklichkeit, das diese erklären soll. Außerdem soll es den Zuschauer anleiten, Handlungsmöglichkeiten für sich zu entdecken. Für utopistische Träumereien ist in diesem Theaterkonzept kein Raum. Wo Brecht gut marxistisch auf gesellschaftliche Praxis zielt, verweigert sich Dea Loher ebenso wie der "späte" Schiller gegenüber konkreten Handlungsanweisungen.

In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen entwirft Schiller ebenso einen utopischen "Traum von einer gerechteren, glücklicheren Welt", weniger für seine Zeitgenossen, als für ein kommendes Geschlecht:

Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik in einigen wenigen auserwählten Zirkeln finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltste Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht, und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige [End Page 354] zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.—Da es einem guten Staat an einer Konstitution nicht fehlen darf, so kann man sie auch von dem ästhetischen fordern. Noch kenne ich keine dergleichen, und ich darf also hoffen, daß ein erster Versuch derselben, den ich dieser Zeitschrift [gemeint sind die Horen, in der die Schrift erstmals 1795 erschien, A.G. und A.W.] bestimmt habe, mit Nachsicht werde aufgenommen werden.27

Olga, die Erhabene

Birgit Haas arbeitet in ihrem Buch Das Theater von Dea Loher. Brecht und (k)ein Ende28 unter anderem Parallelen in der Theaterästhetik von Schiller und Loher heraus. Bei Haas geht es in erster Linie um das Theater als "moralische Anstalt",29 was problematisch ist, da dieser Begriff bei Schiller eben nur eine strategische Funktion erfüllt und als ästhetisches Konzept nie umgesetzt worden ist. Die Ähnlichkeit zwischen Schiller und Loher, die bei Haas postuliert wird, bezieht sich auf die ästhetischen Schriften des "Klassikers". Zwar gibt es bei Loher keinen erhabenen Verbrecher,30 aber durchaus erhabene Helden.

Das Erhabene ist bei Schiller folgendermaßen umrissen:

Bei dem Schönen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit zusammen, und nur um dieser Zusammenstimmung willen hat es Reiz für uns. Durch die Schönheit allein würden wir also ewig nie erfahren, daß wir bestimmt und fähig sind, uns als reine Intelligenzen zu beweisen. Beim Erhabenen hingegen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit nicht zusammen, und eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der Zauber, womit es unser Gemüt ergreift. Der physische und der moralische Mensch werden hier aufs schärfste von einander geschieden, denn gerade bei solchen Gegenständen, wo der erste nur seine Schranken empfindet, macht der andere die Erfahrung seiner Kraft und wird durch eben das unendlich erhoben, was den andern zu Boden drückt.31

Das Erhabene bezeichnet also eine Geisteshaltung, die sich gegen die äußere physische Wirklichkeit behauptet, bei Schiller exemplarisch in Maria Stuart (1800) vorgeführt. In diesem Drama macht die Protagonistin eine Entwicklung durch: Maria hat sich schuldig gemacht, da sie ihren Ehemann getötet hat. Ihre Tat blieb aber ungesühnt. Wenn sie zu Beginn der Handlung im Kerker sitzt, geschieht dies aus politischen Gründen—die Anklage lautet auf Verrat. Doch dies ist Verleumdung. Zunächst lehnt sie sich gegen ihr ungerechtes Schicksal auf, lernt es dann aber zu akzeptieren als Strafe für ihre ungesühnte Schuld und geht erhaben in den Tod. Die physische Vernichtung geht einher mit ihrem moralischen Sieg. Damit erweist sie sich ihrer Gegnerin, der englischen Königin Elisabeth, als geistig und moralisch überlegen, so dass diese am Ende des Dramas als Verliererin dasteht.

Eben diese Geisteshaltung findet sich bei Olga Benario, der Protagonistin in Lohers erstem Drama, Olgas Raum (1990). In dem Stück geht es [End Page 355] um die kommunistische Revolutionärin Olga Benario, die in Brasilien inhaftiert ist und an die Nationalsozialisten ausgeliefert werden soll. Trotz Gefangenschaft und Folter bleibt ihr geistiger Widerstand gegen ihren Peiniger Filinto und gegen das Regime, dem er untersteht, ungebrochen. Ganz im Sinne Schillers vollzieht sie den Schritt von der "Schönen Seele" (die Vernunft und Sinnlichkeit in Einklang bringt und so das will, was sie moralisch muss) zum Erhabenen. Der Tod wird am Ende von Lohers Drama nicht als endgültig angenommen. Olgas letzte Worte lauten: "leicht lebe ich fort".32 Doch über das "Danach" macht Loher genauso wenig konkrete Aussagen wie Schiller in Maria Stuart und zeigt damit ihre Heldin als Utopistin.

Auch Adam Geist hat sich als verzweifelter Utopist erwiesen. Zwar kann er keinen Sinn in diesem Sonnensystem feststellen, verlegt aber dennoch die Hoffnung darauf, dass seine Existenz für Wesen außerhalb des Sonnensystems sinnvoll ist. So lassen sich seine letzten Worte—"ob das ein Trost ist/vielleicht"—als Worte eines verzweifelten Utopisten verstehen.

Höllische Paradiese

Um verzweifelt naive Utopien geht es auch in Unschuld (2004). In 19 Bildern führt das Stück Figuren in extremen Alltagssituationen vor. Was sie verbindet, ist derselbe Wunsch: "Wir wären alle gern unschuldig."33 Die Figuren machen sich aber alle mehr oder weniger schuldig an ihren Mitmenschen. Sie leben in einem je eigenen Raum, einem Gefängnis aus Ängsten und Sehnsüchten, bauen sich ihre eigenen Phantasiewelten als Schutzwall gegen den Alltag. An ihrem Leid sind sie unschuldig, machen sich aber schuldig an anderen und verursachen damit deren Leid. Auch diese sind damit schuldlos an ihrem eigenen Leid. So leben sie unschuldig-schuldig in ihren höllischen Paradiesen.

Die illegalen Flüchtlinge Elisio und Fadoul sind aus ihrer Heimat nach Deutschland geflohen in der Hoffnung, dort das Paradies zu finden. Stattdessen landen sie in der (Vor-)Hölle des "Selbstmörderhochhauses". Wie den anderen Figuren im Stück bleibt ihnen der Weg ins Paradies versperrt. Beide stehen zu Beginn der Handlung am Meer, wo sie "einen Blick in ihre Zukunft" (11) werfen wollen. Stattdessen sehen sie einer Frau beim Ertrinken zu, weil sie die Entscheidung, sie zu retten, durch sinnloses Diskutieren so lange herausschieben, bis es zu spät ist. Die beiden Illegalen machen sich schuldig. Am Horizont sind sie, auch wenn sie es nicht bemerken, ihrer eigenen Zukunft begegnet; sie sind aufmerksam geworden für das Schicksal anderer Menschen. An einer Bushaltestelle findet Fadoul kurze Zeit später eine Tüte voller Banknoten. Anstatt diese zu behalten, entschließt er sich, dem blinden Mädchen Absolut, dem er zufällig begegnet, zu helfen. Das Geld in der Plastiktüte ist ein doppeldeutiges Zeichen: Fadoul glaubt Gott begegnet zu sein, als er in die Tüte blickt: [End Page 356]

FADOUL: Ja, Gott ist in einer Tüte. Ich wollte es erst nicht sagen, weil—ich war verunsichert. Er will, daß ich etwas ganz Großes tue, möglicherweise soll ich werden wie er, und—na ja, es könnte sein, daß ich eure Hilfe brauche. (68)

Ob es wirklich ein Zeichen Gottes ist, stellt er gleich wieder in Frage, ist sich aber durch Absoluts zweifelnde Einwürfe doch nicht ganz sicher, was er nun wirklich gesehen hat:

FADOUL: Nein, Geld, Geld ist in einer Tüte. Absolut, du bringst alles durcheinander. Pause. Ich konnte nicht zu dir kommen und dich ansehen [in der Bar, in der sie tanzt, A.G. und A.W.], weil ich Gott in einer Tüte gefunden habe, und total verwirrt war.
ABSOLUT: Also doch Gott.
FADOUL: Ja, Gott, natürlich Gott, wer denn sonst.
ABSOLUT: Eben hast du noch gesagt, Geld wäre in einer Tüte.
FADOUL: Nein, Gott, Gott ist in einer Tüte, verstehst du mich, deswegen ist ja alles so kompliziert. (69)

Das Geld stellt aber auch eine Versuchung dar. Die Frage ist, warum ausgerechnet Fadoul das Glück hat, unmittelbar nach seinem Schuldigwerden am Tod des ertrunkenen Mädchens eine Tüte voll Geld zu finden. Ist das Geld Belohnung, "eine verfickte Belohnung" (103), Fluch, eine Bewährungsprobe oder die Aufgabe, die Schuld zu sühnen und damit ein Erlösungswerk zu leisten?

Zunächst einmal scheint Fadoul eine moralisch gute Entscheidung zu treffen: Er will eine Augenoperation für die blinde Bartänzerin Absolut mit dem gefundenen Geld finanzieren. Der Impuls zu helfen ist jedoch nicht nur moralisch motiviert, sondern auch sexuell, so dass altruistisches und egoistisches Handeln zusammenfallen. Damit geht es auch weniger um Buße oder ein selbst auferlegtes Erlösungswerk, als vielmehr um die Befriedigung eines egoistischen Wunsches oder vielmehr einer narzisstischen Größenphantasie, in der sich Fadoul zum heldenhaften Retter stilisiert. Doch gerade auf diese Weise wird er erneut am Ideal schuldig.

So ist es mehr als konsequent, dass die Operation scheitert. Sein Vorwurf, alles stagniere, weil es Absolut an Glauben fehle, fällt auf ihn zurück. Die "sinnlose Quälerei", die "Hoffnung, die sich ganz umsonst bemüht hat" (101), erweist sich als gescheitertes Erlösungswerk.

Wie Adam Geist und Olga Benario stellt auch Fadoul die Frage nach dem "Warum":

FADOUL: Nein, kein Wunder, kein verfluchtverdammtes Wunder, obwohl Gott auch das wirken könnte, denn er kann alles wirken, aber ihr behandelt ihn mit Spott, deswegen schickt er kein Glück auf euer Haupt; warum hat er mir die Tüte geschickt, warum mir? Unter allen Illegalen und Aussätzigen und obdachlosen Unwürdigen ausgerechnet mir, habt ihr darüber schon einmal nachgedacht?

(102) [End Page 357]

Wie schon in Adam Geist macht sich auch Fadoul nur weiter schuldig, statt begangene Schuld zu sühnen, und es geschieht auch kein Wunder.

Das Vorführen oder Verkünden von Moral hat offensichtlich keinen Platz mehr im Gegenwartsdrama. So muss, wie oben gezeigt wurde, Theater andere, viel subtilere Wege, beschreiten, um über den Unterhaltungswert hinaus beim Zuschauer eine Wirkung zu erzielen. Direkte Moral wird als heuchlerisch entlarvt. Damit aber greift die Gegenwartsdramatik auf ähnliche Wirkungsmechanismen wie der "späte" Schiller zurück, der nur noch das Scheitern der Moralisten an den bestehenden gesellschaftlichen und psychologischen Strukturen aufzeigt. Nichts anderes macht Dea Loher. Ihre Figuren können ihre Unschuld wie Schillers Figuren nur noch erträumen oder inszenieren und leben somit bestenfalls in höllischen Paradiesen.

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