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Bamberger Einführung in die Geschichte des Islams (BEGI) 14

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14. Der IS-Terror, Antiislamismus und die Bemühung um Deradikalisierung (2001–2024)

Die Anschläge vom 11. September 2001 bringen weltweit eine Welle von Antiislamismus hervor. Militante Islamisten solidarisieren sich mit al-al-Qāʿida, die Führung der dschihadistischen Internationalen geht nach 2014 aber an die IS-Organisation über. Daneben laufen verschiedene Bemühungen um Ausgleich zwischen den Extremen. Der politische Islam der Muslimbruderschaft wird nach dem Arabischen Frühling zurückgedrängt.

14.1. Der militante Islam nach dem 11. September

14.1.1. Der internationale Kampf gegen den islamischen Terrorismus

Die Anschläge vom 11. September 2001 verursachten den Tod von knapp 3.000 Menschen. Als Reaktion darauf rief die US-Regierung von George W. Bush wenige Tage später ihren Global War on Terrorism aus. Hierbei handelte es sich um ein umfassendes Paket politischer, militärischer und juristischer Maßnahmen, die sich vor allem gegen den militanten Islamismus richteten. Die wichtigste militärische Komponente des Programms bestand aus der sogenannten Operation Enduring Freedom, die schon im Oktober 2001 begann, verschiedene Einzelmissionen in Afghanistan, auf den Philippinen, am Horn von Afrika, im Kaukasus und Zentralasien umfasste und auch verschiedene Alliierte der USA einband. Eines der Hauptziele der Operation Enduring Freedom war die Vernichtung des Terrornetzwerks al-Qāʿida und die Gefangennahme von Usāma ibn Lādin, den die Vereinigten Staaten als Hauptverantwortlichen für die Anschläge ausgemacht hatten. Nachdem sich des Taliban-Regime geweigert hatte, Usāma ibn Ladin auszuliefern, wurde es im Dezember 2001 von einer internationalen Koalition gestürzt. Mullā ʿUmar, der Anführer der Taliban, und Usāma ibn Lādin konnten allerdings nach Pakistan entkommen. Als neuer demokratisch organisierter Staat mit pro-westlicher Ausrichtung wurde 2004 die Islamische Republik Afghanistan gegründet.

Mit der Begründung, dass der Irak über nicht-konventionelle Waffen und entsprechende Rüstungsprogramme verfüge und den islamistischen Terrorismus unterstütze, marschierten im März 2003 außerdem amerikanische und britische Truppen im Irak ein und stürzten das dortige Regime von Saddam Hussein.

Ein wichtiger Bestandteil des Kampfes gegen den militanten Islamismus war aber auch die Ausweitung staatlicher Kontrolle über das islamische Schulwesen. In vielen Ländern, so zum Beispiel in Russland und Indien, schlossen die Regierungen private Madrasas und Koranschulen, weil sie sie als "Brutstätten des Terrorismus" betrachteten. In anderen Ländern, so zum Beispiel Marokko und Senegal, haben die Regierungen das staatliche islamische Schulwesen ausgebaut, um damit einer religiösen Radikalisierung entgegenzuwirken.

14.1.2. Solidarisierung mit al-Qāʿida und das militante islamische Lager

Auf Seiten der Muslime waren die Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September 2001 sehr unterschiedlich. Die überwältigende Mehrheit von ihnen lehnte diese Anschläge sicherlich ab. Es gab aber auch Muslime, die sie begrüßten und zum Anlass nahmen, sich mit al-Qāʿida zu solidarisieren. Als ein Beispiel lässt sich der saudische Gelehrte Safar al-Hawālī nennen, der in den 1990er Jahren zur Sahwa-Gruppe gehört hatte. Er veröffentlichte wenige Wochen später einen Offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten George W. Bush, in dem er die traditionelle Sympathie der Araber für die Vereinigten Staaten hervorhob, gleichzeitig aber seine Enttäuschung über den Wandel der amerikanischen Politik seit den 1970er Jahren zum Ausdruck brachte. In dem Brief steht auch die Bemerkung, dass der Schock, den die Muslime fühlten, als sie von den Anschlägen erfuhren, von einer „gewaltigen Welle der Freude“ begleitet gewesen sei.

Andere Muslime bekundeten ihre Solidarität mit Usāma ibn Lādin und al-Qāʿida, indem sie selbst terroristische Anschläge organisierten. Im April 2002 erfolgte ein Anschlag auf die al-Ghriba-Synagoge auf der Insel Djerba in Tunesien, infolgedessen 19 Touristen starben und weitere ca. 30 Personen zum Teil schwer verletzt wurden. Im Juni 2002 bekannte sich die al-Qāʿida in Form einer Videobotschaft zu der Tat. Im Oktober 2002 unternahm die südostasiatische Jemaah Islamiyah Anschläge auf mehrere Nachtklubs in Bali, bei denen mehr als 200 Menschen getötet wurden. In Saudi-Arabien gründete der Afghanistan-Kämpfer Yūsuf al-ʿUyairī 2002 auf Befehl von Usāma ibn Lādin die Organisation al-Qāʿida auf der arabischen Halbinsel (al-Qāʿida fī ǧazīrat al-ʿArab; AQAP), die 2003/2004 eine Serie von Bombenanschlägen in Saudi-Arabien beging. Von 2003 bis 2006 gab diese Organisation das arabischsprachige Online-Magazin Ṣaut al-Ǧihād („Stimme des Dschihad“) heraus, das die arabisch-sprachigen Dschihadisten weltweit mit Informationen über verschiedene Aspekte der islamistischen Kriegführung versorgte.

Die Welle der Solidarisierung mit den militanten Islamisten setzte sich fort, als im März 2003 amerikanische und britische Truppen im Irak einmarschierten. Safar al-Hawālī gründete in dieser Zeit zusammen mit etwa 300 anderen muslimischen Persönlichkeiten „Die globale Kampagne zum Widerstand gegen die Aggression“. In Russland rief im April 2003 Talgat Tadschuddin, Vorsitzender und Oberster Mufti der Zentralen geistlichen Verwaltung der Muslime Russlands (ZDUM) gegen die USA und Großbritannien, den Hauptmitgliedern der sogenannten Koalition der Willigen, den Dschihad aus. Im Irak selbst trat ab April 2004 die „Gemeinschaft für Tauhīd und Dschihad“ von Abū Musʿab az-Zarqāwī mit terroristischen Anschlägen in Erscheinung. Als er im Mai 2004 die amerikanische Geisel Nicholas Berg ermordete, machte ihn das zum Helden der internationalen Gemeinschaft der Online-Dschihadisten. Az-Zarqāwī war ein Schüler von Abū Muhammad al-Maqdisī (vgl. oben 13.2.3.). Im Oktober 2004 wandte er sich von seinem ehemaligen Lehrer ab, änderte den Namen seiner Organisation in Tanẓīm Qāʿidat al-Ǧihād fī Bilād ar-Rāfidain („Organisation der Basis des Dschihad im Zweistromland“) um und schwor offiziell Usāma ibn Lādin die Treue. Dieser erkannte umgekehrt im Dezember 2005 die Gruppe an und erklärte Zarqāwī zu seinem Stellvertreter im Irak. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich im Maghreb, wo sich Ende 2006 der Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat (GSPC) al-Qāʿida anschloss und sich entsprechend in al-Qaïda au Maghreb islamique (AQMI) umbenannte. Die Organisation arbeitete eine Zeitlang mit der islamistischen Gruppierung Boko Haram zusammen, die seit 2004 in Nigeria operiert und dort terroristische Anschläge verübt. Christina Hellmich hat dieses Phänomen der Namensübernahme als "Franchise-Terrorismus" bezeichnet.

Aiman az-Zawāhirī, von 2011 bis 2022 Anführer der al-Qāʿida-Organisation

Usāma ibn Lādin wurde im Mai 2011 bei einem von der CIA geleiteten US-Militäreinsatz in Abbottabad, Pakistan, erschossen. Danach war Aiman az-Zawāhirī Anführer von al-Qāʿida. Die Kernzelle der Organisation rückte unter seiner Führung etwas in den Hintergrund und nahm an Militanz ab. Dies hat auch mit az-Zawāhirīs geistiger Heimat zu tun, der ägyptischen Dschamāʿa Islāmīya. Sie stand den Anschlägen vom 11. September 2001 von Anfang kritisch gegenüber und hat in Reaktion auf sie 2002 öffentlich der Gewalt abgeschworen. Sehr aktiv blieb aber weiter AQAP, das 2009 sein Zentrum in den Jemen verlegt hatte. Ab Juli 2010 gab diese Zweigorganisation das englisch-sprachige Online-Magazin Inspire heraus, das auch Anleitungen für die Durchführung von Bombenattentaten enthielt. Diese Instruktionen dienten unter anderem bei dem Anschlag auf den Boston-Marathon im April 2013 als Vorlage. AQMI machte 2016 durch Terroranschläge auf Touristen in Westafrika von sich reden, so unter anderem durch die Anschläge am 13. März 2016 in Grand-Bassam.

14.1.3. Errichtung islamischer Emirate in gescheiterten Staaten

Innerhalb der Kreise des al-Qāʿida-Netzwerks wurden nach 2001 neue strategische Pläne zur islamistischen Machtergreifung entwickelt. Sie zielten darauf ab, zunächst in möglichst vielen islamischen Ländern durch terroristische Anschläge Chaos zu stiften und dann auf den Ruinen der Gescheiterten Staaten eine islamische Herrschaftsordnung zu errichten. Einer der ersten Texte, in dem dieser Gedanke entwickelt wird, ist das E-Book Idārat at-tawaḥḥuš („Die Verwaltung der Barbarei“), von dem Ausschnitte erstmals 2004 in dem oben erwähnten Online-Magazin Ṣaut al-ǧihād veröffentlicht wurden.

Das von al-Shabaab kontrollierte Gebiet in Somalia. Links im Januar 2009, rechts im Dezember 2010

In einigen Gebieten war diese neue Strategie ganz oder teilweise erfolgreich. In Somalia, wo staatliche Strukturen schon in den 1990er Jahren weitgehend zusammengebrochen waren, nahm im Juni 2006 die Union islamischer Gerichte nach seinem Sieg in Mogadischu ab Juni 2006 schnell und unter wenig Gegenwehr weite Teile des südlichen Landesteils ein. Zwar wurde sie schon Ende des Jahres durch äthiopische Truppen wieder entmachtet, doch ist seit dieser Zeit die islamistische Al-Shabaab-Miliz in Somalia aktiv. Al-Shabaab steht für Ḥarakat aš-šabāb al-muǧāhidīn („Bewegung der Mudschāhidīn-Jugend“). Die Gruppierung konnte bis Ende 2010 fast den gesamten südlichen Landesteil von Somalia unter ihre Kontrolle bringen. Seit 2012 gehört sie dem al-Qāʿida-Netzwerk an.

In Pakistan übernahmen 2007 die „Bewegung zur Durchsetzung der muhammadanischen Scharia“ (Taḥrīk-i nifāẕ-i šarīʿat-i Muḥammadī; TNSM) und die „Bewegung der Taliban in Pakistan“ (Taḥrīk-i ṭālibān-i Pākistān) nach Kämpfen mit der pakistanischen Armee die Herrschaft über weite Gebiete des Swat-Distrikts im Norden des Landes. Sie verboten Mädchen den Schulbesuch und das unverschleierte Betreten öffentlicher Räume, untersagten das Hören von Musik und führten ihre eigene Rechtsprechung ein. Der internationalen Öffentlichkeit wurde diese Tatsache erst bewusst, als 2014 die aus dem Swat-Tal kommende Schülerin Malala Yousafzai den Friedensnobelbreis erhielt. Sie hatte 2009 als Elfjähirge damit begonnnen, in einem Blog-Tagebuch auf der BBC-Website über die Gewalttaten der Taliban zu berichten, war dann aber 2012 selbst zum Ziel eines Taliban-Attentas geworden.

Weitere gescheiterte Staaten entstanden ab 2011 im Zusammenhang mit den Protesten des Arabischen Frühlings in Libyen, Jemen und Syrien. Im Jemen nutzte eine Gruppierung, der die AQAP nahe steht, die Situation und rief Ende März 2011 im Gouvernement ein Islamisches Emirat aus. Der Arabische Frühling führte auch zur Destabilisierung von Teilen Westafrikas. Am 6. April 2012 erklärten rebellierende Tuareg die Unabhängigkeit der Region Azawad von der Republik Mali. Im Verlauf des Jahres 2012 gewannen die beiden mit AQIM verbundenen islamistischen Milizen Ansar Dine und MUJAO immer mehr Macht in Azawad und verdrängten dort die nationalistischen Kräfte. Internationales Aufsehen erregte es, als im Mai und Juni 2012 Mitglieder dieser Milizen die zum UNESCO-Welterbe gehörende Grabmausoleen von muslimischen Heiligen in Timbuktu zerstörten. Als die islamistischen Rebellen die malische Hauptstadt einzunehmen drohten, intervenierten französische Truppen in der Opération Serval und verdrängten die Islamisten.

Auch die Taliban Afghanistans, die seit 2016 unter der Führung von Hibatullah Akhundzada stehen, konnten sich reorganisieren. Nach dem 2020 mit den USA geschlossenen Doha-Abkommen und dem Beginn des Abzugs der US- und NATO-Truppen im Mai 2021 starteten sie eine Militäroffensive gegen die Afghanische Nationalarmee, brachten im Sommer das gesamte Land unter ihre Kontrolle und riefen am 16. August 2021 erneut das Islamische Emirat Afghanistan aus.

14.1.4. Das IS-Kalifat

Das ambitionierteste Projekt zur Errichtung eines „Islamischen Staates“ auf den Ruinen gescheiterter Staaten entfaltete sich im Irak und in Syrien. Als theoretische Grundlage lässt sich ein Text ausmachen, der schon 2005 von dem jordanischen Journalisten Fu'ād Husain bekannt gemacht wurde. Er enthält einen mehrphasigen Plan des ägyptischen al-Qāʿida-Ideologen Saif al-ʿAdl für die Errichtung einer islamischen Weltherrschaft. Demnach war die erste Phase dieses Plans, das "Aufwachen", bereits abgeschlossen. Sie reichte von den Vorbereitungen für die Anschläge des 11. Septembers 2001 bis zum Fall von Bagdad 2003. Die zweite Phase, das "Augenöffnen", lief gerade ab und sollte bis 2006 beendet sein. In dieser Phase sollte der Irak zur Operationsbasis für eine islamische Armee ausgebaut werden. In der dritten Phase, dem "Aufstehen", von 2007 bis 2010 sollte der Kampf auf die Nachbarländer, insbesondere Syrien, ausgeweitet werden. In der vierten Phase, die die Jahre 2010 bis 2013 einnehmen sollte, sollte der Sturz der "verhassten arabischen Regime" erreicht werden. In der fünften Phase, zwischen 2013 und 2016 sollte das Kalifat ausgerufen werden, ab 2016 sollte mit der sechsten Phase die totale Konfrontation zwischen Glauben und Unglauben erfolgen, und in der siebten Phase, die bis zum Jahr 2020 abgeschlossen sein würde, der endgültige Sieg des Kalifats erreicht werden. Die restliche Welt, so hoffte al-ʿAdl, werde angesichts der Kampfbereitschaft von "anderthalb Milliarden Muslimen" klein beigeben.[1]

Abū Bakr al-Baghdādī, 2004

Wie stark sich die al-Qāʿida-Organisation im Irak an diesem Plan orientierte, ist nicht klar, doch ist auffällig, dass sie sich im Oktober 2006 in „Islamischer Staat im Irak“ (ISI; ad-Daula al-islāmīya fī l-ʿIrāq) umbenannte. Damit vollzog die Organisation den Wandel von einer Terrororganisation hin zu einer Rebellenmiliz mit Ziel der Staatsgründung. Mitte Mai 2010 erklärte ISI den Gelehrten Ibrāhīm ʿAuwād al-Badrī unter dem Namen Abū Bakr al-Baghdādī zu ihrem neuen Anführer. Ab Februar 2012 beteiligte sich ISI offen am Syrischen Bürgerkrieg. Dort gehörte sie neben der Nusra-Front, mit der sie teils kollaborierte und die sie teils bekämpfte, zu den mit al-Qāʿida verbundenen Akteuren. Im April 2013 erklärte Abū Bakr al-Baghdādī die Nusra-Front zu einem bloßen Teil von ISI und gab die Vereinigung von Nusra-Front und ISI unter dem neuen Namen „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS) bekannt. Dieser Schritt wurde aber von der Nusra-Front nicht akzeptiert. Da auch Aiman az-Zawāhirī diesen Schritt verurteilte, vollzog sich der Bruch mit al-Qāʿida. In der zweiten Hälfte 2013 konnte ISIS weite Teile Ostsyriens, darunter auch die Stadt ar-Raqqa unter ihre Kontrolle bringen. Einen internationalen Prestigegewinn erzielte die Organisation dadurch, dass sich ihr im April 2014 der dschihadistische Rapper Denis Cuspert anschloss und deutsche Muslime dazu aufrief, ihm zu folgen.

Schild, das das Territorium des „Islamischen Staates“ markiert, nach der Einnahme Mossuls im Januar 2017. Rechts oben Siegel des Propheten, unten der Schriftzug "Kalifat nach dem Modell des Prophetentums"

Nach Zusammenschluss der von ihr beherrschten Territorien in Syrien und im Irak rief ISIS am 29. Juni 2014 Abū Bakr al-Baghdādī zum Kalifen aus und benannte sich gleichzeitig in „Islamischer Staat“ (IS) um. Durch Versklavung jesidischer Frauen und Kinder in den eroberten Gebieten des Nordirak sowie die Enthauptung westlicher Geiseln (u.a. James Foley im August 2014) löste die Organisation weltweit Entsetzen aus. Empörung riefen die IS-Terroristen auch durch ihre Zerstörung der antiken Stätten von Palmyra und die Ermordung des syrischen Archäologen Chālid al-Asʿad im August 2015 hervor. Die USA begannen 2014 mit Luftangriffe auf Stellungen des IS und riefen ein internationales Militärbündnis gegen den IS ins Leben. Zusammen mit Bodentruppen aus Irak und Syrien konnte das Bündnis die meisten vom IS gehaltenen Gebiete bis zur Mitte des Jahres 2017 zurückerobern. Abū Bakr al-Baghdādī selbst tötete sich 2019 bei einem US-amerikanischen Militäreinsatz in Syrien. Nicht vergessen werden darf jedoch, dass der IS mittlerweile – wie früher al-Qāʿida – über ein weltweites Netzwerk von Ablegern und loyalen Milizen verfügt, so zum Beispiel in Afghanistan, Libyen, Nigeria und auf den Philippinen, die weiter von der Vision der Errichtung eines Islamischen Staates mit militärischen Mitteln erfüllt sind. Besonders aktiv ist die afghanische Zelle IS-Provinz Khorasan (ISPK). Sie verübte im März 2024 einen Anschlag im russischen Krasnogorsk mit 144 Todesopfern.

14.1.5. Die neue Zuspitzung im sunnitisch-schiitischen Konflikt

Die zerstörte Kuppel des Schreins von Hasan al-ʿAskarī

Der Einmarsch der USA in den Irak 2003 führte nicht nur dazu, dass hier eine starke militant-islamische Bewegung entstand, sondern er brachte auch eine neue Konfrontation in dem Verhältnis zwischen irakischen Sunniten und Schiiten hervor. Auf schiitischer Seite machten sich hier die Badr-Miliz des Supreme Council for Islamic Revolution in Iraq (SCIRI) und die Mahdi-Armee des schiitischen Geistlichen Muqtadā as-Sadr bemerkbar. Auf sunnitischer Seite gründete im Juli 2005 Abū Musʿab az-Zarqāwī die sogenannte ʿUmar-Brigade, die zahlreiche Selbstmordattentate auf Schiiten unternahm. Abū Muhammad al-Maqdisī, der geistige Ziehvater von az-Zarqāwī, wandte sich 2004 aufgrund dieser sektarischen Neuorientierung von ihm ab. Dies war auch der Grund, warum sich az-Zarqāwī al-Qāʿida anschloss. Im Februar 2006 zerstörte seine Gruppe mit einem Bombenanschlag die goldene Kuppel des Mausoleums von Hasan al-ʿAskarī in Samarrā. Die Tatsache, dass die aus az-Zarqāwīs Gruppe hervorgegangene ISIS-Miliz ihre Angriffe gegen die Schiiten im Irak fortsetzte, war ein weiterer Grund für die Entzweiung zwischen ihr und al-Qāʿida im Jahre 2013.

Seit dem Arabischen Frühling haben auch in anderen islamischen Ländern die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten zugenommen. Im Inselstaat Bahrain, dessen Bevölkerungsmehrheit schiitisch ist, das aber von einer sunnitischen Dynastie regiert wird, kam es im Frühjahr 2011 zu einem schiitischen Aufstand. Der im gleichen Jahr ausgebrochene Aufstand gegen das Syrische Regime von Baschschār al-Asad hatte zeitweise ebenfalls den Charakter eines Konfessionskriegs: die Aufständischen betrachteten sich als Repräsentanten des wahren sunnitischen Islams, die ein ketzerisches nusairisches Regime bekämpfen. Auch der seit 2004 im Jemen schwelende Huthi-Konflikt erhielt zunehmend einen konfessionalistischen Anstrich. Die sogenannten Huthis sind zaiditische Schiiten und seit 2011 im nördlichen Jemen in heftige Auseinandersetzungen mit Salafisten verwickelt. Den Huthis wird nachgesagt, Unterstützung aus Iran zu erhalten. Auch in Saudi-Arabien machte sich die schiitische Minderheit im Jahre 2011 durch Proteste bemerkbar. Der Anführer dieser Proteste, der Āyatullāh Nimr an-Nimr, wurde im Januar 2016 hingerichtet. Dies löste heftige Proteste von Schiiten im Iran und anderen Ländern aus und führte zu einer neuen Krise im Verhältnis zwischen Iran und Saudi-Arabien.

14.2. Das Anwachsen antiislamischer Tendenzen in den westlichen Ländern

14.2.1. Frühe Erscheinungsformen des Antiislamismus

Die Anschläge vom 11. September 2001 lösten in den westlichen Ländern eine Welle von Antiislamismus aus. Als Antiislamismus bezeichne ich politische Grundhaltungen, die im Islam an sich eine Bedrohung für die Aufrechterhaltung der eigenen sozialen, politischen und kulturellen Traditionen sehen und deswegen auf seine Zurückdrängung ausgerichtet sind. Im öffentlichen und zum Teil auch im wissenschaftlichen Diskurs werden solche Haltungen mit Begriffen wie Islamophobie, Islamfeindlichkeit oder Islamkritik belegt, doch vermeide ich diese Begriffe, weil sie mit Wertungen verbunden sind und zum Teil sogar polemischen Charakter haben. In den Jahren nach 2001 entstand in Europa und Nordamerika ein engmaschiges Netz anti-islamischer Aktionsgruppen, Bewegungen und Parteien, die ihre Vorstellungen über die Medien, insbesondere das Internet, verbreiteten. In Deutschland entwarf Udo Ulfkotte 2003 in seinem Buch „Der Krieg in unseren Städten“ zum ersten Mal ein umfassendes Bedrohungszenario von einer Unterwanderung der Gesellschaft durch radikale Islamisten. Großen Zuspruch fand auch der 2004 von Stefan Herre gegründete politische Blog Politically Incorrect, in dem Medienberichte mit negativen Schlagzeilen über Muslime gesammelt wurden, gleichzeitig aber den Medien auch vorgeworfen wurde, durch falsche Politische Korrektheit die Islamisierung Europas vorzubereiten. Die professionell gestaltete Seite ist bis heute online.

Im Zuge zunehmender Ängste vor dem Islam und im Zusammenhang mit einer sich verändernden Religionspolitik in der Türkei unter der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan wurden auch die Türkeistämmigen in Deutschland immer mehr als eine Minderheit mit islamischer Identität wahrgenommen. Fälle wie der sogenannte Ehrenmord an Hatun Sürücü lösten Debatten über die Wertvorstellungen von in Deutschland lebenden muslimischen Familien aus. In den Niederlanden erstellte Theo van Gogh in Zusammenarbeit mit der ehemaligen Muslimin Ayaan Hirsi Ali 2004 den islamkritischen Film Submission (dt. „Unterwerfung“), in dem vier muslimische Frauen über ihre Missbrauchserfahrungen sprechen. Der Titel ist auch eine Anspielung an die Bedeutung des arabischen Worts Islām und suggeriert, dass der Islam in einem antagonistischen Verhältnis zur Freiheit steht. Die Fernsehausstrahlung im August 2004 führte zu heftigen Reaktionen unter Muslimen, Hirsi Ali und Theo van Gogh erhielten mehrfache Morddrohungen. Im November 2004 wurde Theo van Gogh in Amsterdam von einem marokkanischen Islamisten ermordet.

Friedliche Demonstrationen gegen die Mohammed-Karikaturen am 11. Februar 2006 in Paris

Der Antiislamismus verstärkte sich weiter nach den Madrider Zuganschlägen im März 2004 und den Terroranschlägen in London im Juli 2005, die beide islamistisch motiviert waren. In Dänemark veröffentlichte im September 2005 die Zeitung Jyllands-Posten zwölf abwertende Zeichnungen Mohammeds. In der Folge weiterer Veröffentlichungen dieser und weiterer Muhammad-Karikaturen kam es in vielen islamischen Ländern zu islamistisch motivierten gewalttätigen Ausschreitungen, zu diplomatischen Konflikten zwischen der dänischen Regierung und Regierungen islamischer Staaten. Die OIC beschloss noch im Dezember des gleichen Jahres auf ihrem dritten außerordentlichen Treffen in Mekka die Gründung eines „Observatory of Islamophobia“, die seitdem Jahresberichte zum Thema veröffentlicht.

Im September 2006 hielt Papst Benedikt XVI. bei einem Besuch in Deutschland vor Wissenschaftlern an der Universität Regensburg eine Vorlesung, in der er eine Aussage des spätmittelalterlichen byzantinischen Kaisers Manuel II. (1350-1424) zur Rolle der Gewalt im Islam zitierte. Wörtlich lautete das Zitat:

„Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten‘.“

Manuel II., zitiert von Benedikt XVI.

Die Vorlesung, die sehr schnell in islamischen Kreisen bekannt wurde, löste dort heftige Proteste aus, weil man fand, dass sich der Papst nicht genügend von dem Zitat distanziert hatte.

Kritik am Koran und dem islamischen Religionsgründer wird in Europa seit der zweiten Hälfte der 2000er Jahre viel offener vorgetragen als früher. Im Februar 2007 sagte der niederländische Parlamentarier Geert Wilders, Führer der rechtsgerichteten Partij voor de Vriejheid, in einem Zeitungsinterview: „Wenn die Muslime in diesem Land bleiben wollen, dann müssen sie die Hälfte der Seiten des Korans herausreißen.“ 2008 veröffentlichte er im Internet seinen islamkritischen Film Fitna, eine Collage von Koranzitaten und Filmaufnahmen von islamistisch motivierten Gewalttaten.

Um 2007 entstand außerdem die sogenannte ex-muslimische Bewegung. Es handelt sich um eine Bewegung von im westlichen Ausland lebenden Muslimen, die sich von ihrer Religion abwenden und sich auch öffentlich dazu bekennen. Das hat es so noch nie in der islamischen Geschichte gegeben. Beispiele für solche „Ex-Muslime“ sind Ibn Warraq in Großbritannien und Mina Ahadi in Deutschland. Ein Jahr später wurde in Deutschland der Verein Bürgerbewegung Pax Europa (BPE) gegründet, der sich selbst als außerparlamentarische Plattform gegen die „schleichende Islamisierung“ Deutschlands und Europas definiert. Er sucht den Schulterschluss mit islamkritischen Muslimen und zeichnete mehrere von ihnen mit Preisen aus.

14.2.2. Die gegenseitige Verstärkung von Salafismus und Antiislamismus

Der salafistische Prediger Pierre Vogel mit Gegendemonstranten 2011 in Koblenz

Der Antiislamismus wurde dadurch noch verstärkt, dass zeitgleich mit ihr in den westlichen Ländern eine salafistische Szene entstand, die durch Abgrenzung gegenüber den aufnehmenden Gesellschaften geprägt war. Als ideologische Grundlage diente hierbei unter anderem die al-Walā'-wa-l-barā'-Doktrin (siehe oben 13.1.3.). Nach außen hin wurde die Abgrenzung vor allem durch Niqāb und Burka deutlich gemacht. Beides sind Ganzkörperschleier für Frauen, wobei der Niqāb im Gegensatz zum Burka (vgl. oben 13.2.6.) einen Sehschlitz für die Augen offen lässt. Mehrere europäische Staaten reagierten auf die neue Situation mit Verschleierungsverboten. Ein Beispiel ist Frankreich, wo sich ab Juni 2009 eine vom Parlament eingesetzte Kommission mit dem Thema der Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit befasste. Sie stellte in ihrem Abschlussbericht fest, dass die Vollverschleierung des Gesichts mit den Werten der Republik als säkularem Staat sowie mit den Prinzipien der Geschlechtergleichheit und der Freiheit von religiösem Zwang unvereinbar sei. Mit dem Gesetz Nr. 2010-1192 vom 11. Oktober 2010 wurde das Verbergen des Gesichtes im öffentlichen Raum untersagt und mit einer Ordnungsstrafe belegt. Zusätzlich wurde ein Artikel in das französische Strafgesetzbuch eingefügt, der eine Gefängnisstrafe von einem Jahr oder eine Geldstrafe von 30.000 Euro vorsieht, wenn eine Gesichtsverhüllung durch Zwang oder Drohungen herbeigeführt wird.

Logo der Identitären Bewegung

Anfang der 2010er Jahr bildete sich mit der Identitären Bewegung eine neue transnationale antiislamische Strömung in Europa. Die identitären Gruppierungen sehen Europa von einer Islamisierung bedroht und kämpfen für einen Schutz der europäischen Kulturidentität gegen migrantische Einflüsse. Von ähnlichen Ängsten war auch der rechtsextremistische norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik getrieben, der im Juli 2011 die Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya verübte, denen 77 Menschen zum Opfer fielen.

In Deutschland veröffentlichte Thilo Sarrazin 2010 sein Buch Deutschland schafft sich ab, in dem er einen Stopp „islamischer Immigration“ forderte. Die Angst vor einer Islamisierung wurde in Deutschland auch dadurch geschürt, dass salafistische Prediger bei ihren Daʿwa-Aktivitäten immer offensiver auftraten. Der palästinenische Geschäftsmann Ibrahim Abou Nagie, der schon 2005 den Daʿwa-Verein „Die Wahre Religion“ (DWR) gegründet hatte, startete 2011 unter dem Namen „Lies!“ (angelehnt an Q 96:1) in deutschen Großstädten eine großangelegte Koranverteilungsaktion mit dem Ziel, alle deutschen Haushalte mit einem Koranexemplar zu versorgen. Wie erst später bekannt wurde, nutzte der Verein die Infostände auch, um neue Anhänger für die IS-Organisation zu werben. Von 140 Menschen ist bekannt, dass sie nach Teilnahme an Lies!-Aktionen nach Syrien oder in den Irak reisten, um sich dem IS anzuschließen. Anhänger des salafistischen Predigers Sven Lau traten im September 2014 in Wuppertal als „Sharia Police“ auf und erzeugten damit ein erhebliches Medienecho.

Teilnehmer einer Pegida-Demonstration im Januar 2015

Im Oktober und November 2014, also kurz nach dieser Aktion, organisierte in Deutschland die Aktionsgruppe Hooligans gegen Salafisten Demonstrationen, bei denen es zu Straßenschlachten mit der Polizei kam. In Dresden, wo schon 2009 ein Russlanddeutscher aus islamfeindlichen Motiven die Ägypterin Marwa El-Sherbini während einer Strafverhandlung ermordet hatte, bildete sich unter dem Namen „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) zum ersten Mal eine anti-islamische Massenbewegung. Sie veranstaltete von Oktober 2014 bis Januar 2015 wöchentliche Demonstrationen.

Die identitäre Bewegung wurde durch eine Serie islamistischer Anschläge in Frankreich und Belgien noch weiter gestärkt. Der erste dieser Anschläge im Januar 2015 galt der französischen Karikaturzeitschrift Charlie Hebdo. Sie hatte im September 2012 erneut Muhammad-Karikaturen veröffentlicht, woraufhin das AQAP-Magazin Inspire 2013 den Chefredakteur von Charlie Hebdo „tot oder lebendig wegen Verbrechen gegen den Islam“ „zur Fahndung“ ausschrieb. Nachdem im Januar 2015 Charlie Hebdo erneut islamkritische Karikaturen veröffentlicht hatte, drangen zwei maskierte Täter, die sich später zu AQAP bekannten, in die Redaktionsräume der Zeitschrift ein und töteten elf Personen. Im November desselben Jahres begingen sieben Islamisten an acht verschiedenen Orten in und um Paris koordinierte Selbstmordattentate, bei denen sie insgesamt 130 Menschen töteten. Planer der Anschläge war ein belgischer Islamist marokkanischer Abstammung, der sich dem IS angeschlossen hatte. Der IS selbst bekannte sich schon einen Tag später zu den Anschlägen und rühmte sie als „gesegnetes Gemetzel“. Im März 2016 begingen drei islamistische Selbstmordattentäter Anschläge in Brüssel, bei denen 35 Menschen ums Leben kamen und über 300 Menschen verletzt wurden. Auch zu diesen Anschlägen bekannte sich die IS-Organisation.

Die Kette terroristischer Anschläge mit islamistischem Hintergrund in Europa setzte sich in den folgenden Monaten noch weiter fort. Im Juli 2016 fuhr ein 31-jähriger Tunesier, der dem IS seine Unterstützung bekundet hatte, in Nizza mit einem Lkw absichtlich in eine Menschenmenge, wodurch 86 Menschen zu Tode kamen und über 300 Menschen verletzt wurden. Im Dezember steuerte der 24-jährige Anis Amri, ebenfalls ein Tunesier, einen geraubten Lkw in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Berlin, wodurch elf Menschen getötet und weitere 55 Besucher verletzt wurden. Weitere große islamistische Terroranschläge wurden 2017 unter anderem in Istanbul (39 Tote), Manchester (23 Tote) und Barcelona (14 Tote) verübt. In mehreren dieser Fälle bekannten sich die Täter zur IS-Organisation.

Ein Stand der Bürgerbewegung Pax Europa im Mai 2024 ähnlich demjenigen, der in Mannheim angegriffen wurde.

Als Reaktion auf die islamistischen Anschläge in Frankreich und Belgien 2015/16 verschärfte in Deutschland die rechtspopulistische Partei Alternative für Deutschland (AfD) ihre anti-islamische Rhetorik. In ihrem Grundsatzprogramm, das Anfang Mai 2016 verabschiedet wurde, wies die Partei die Aussage, dass der Islam zu Deutschland gehöre, zurück und forderte eine Beendung der Auslandsfinanzierung von Moscheen, die Schließung von Koranschulen und ein Verbot der Vollverschleierung. Constantin Schreiber schürte 2017 mit seinem Buch Inside Islam - Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird weiteres Misstrauen gegenüber den Muslimen. In Frankreich verboten nach dem Anschlag in Nizza verschiedene südfranzösische Gemeinden das Tragen von Burkinis am Strand. Beim Burkini handelt es sich um einen Ganzkörper-Schwimmanzug mit Kapuze für muslimische Frauen, der ihnen die Einhaltung der islamischen Verhüllungsvorschriften beim Schwimmen ermöglichen soll. Das Verbot wurde damit begründet, dass der Burkini ein Symbol der Unterdrückung der Frau bzw. der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation sei. Die antiislamische Stimmung in Frankreich erreichte nach dem islamistisch motivierten Mord an dem Geschichtslehrer Samuel Paty am 16. Oktober 2020 und mit der Präsidentschaftskandidatur des offen mit identitären Positionen sympatisierenden Politikers Éric Zemmour bei der Wahl von April 2022 einen neuen Höhepunkt. In Deutschland hat im Mai 2024 der Messerangriff in Mannheim auf einen BPE-Stand, bei dem der antiislamische Aktivist Michael Stürzenberger angegriffen und der Polizist Rouven Laur tödlich verletzt wurde, die antiislamische Stimmung noch einmal angeheizt.

Die identitäre Bewegung hat mittlerweile auch außerhalb Europas einige Anhänger gewonnen. Ein Beispiel ist der australische Rechtsextremist und Massenmörder Brenton Tarrant, der am im März 2019 einen Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch in Neuseeland verübte, bei dem er 51 Menschen tötete. Kurz vor der Tat stellte er ein Pamphlet ins Netz, in dem er sich auf Anders Behring Breivik sowie eine Reihe identitärer Theorien berief, darunter die des sogenannten Großen Austauschs. Ob der wenige Wochen später verübte Terroranschlag am Ostersonntag in Sri Lanka, bei dem Anhänger einer lokalen islamistischen Gruppe Kirchen und Hotels angriffen und 253 Menschen töteten, eine Antwort von islamistischer Seite auf den Anschlag von Christchurch war, ist umstritten. Auffällig ist jedoch, dass die Täter von Sri Lanka ähnlich handelten, indem sie die meisten ihrer Opfer beim Gottesdienst ermordeten.

14.3. Jenseits des Extremismus: Die Suche nach Kompromissen

Nachdem in den beiden vorangehenden Abschnitten der militante Islamismus und die antiislamischen Tendenzen in der Zeit nach dem 11. September 2001 beschrieben wurden, soll der dritte und letzte Abschnitt den Bemühungen um einen Ausgleich zwischen diesen widerstrebenden Strömungen gewidmet werden. Als Orientierungspunkt dienen dabei verschiedene Deklarationen aus dem Zeitraum von 2001 bis 2014, an denen sich eine große Anzahl von muslimischen Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern beteiligt hat. Daneben wird am Beispiel der deutschen Islam-Politik aufgezeigt, welche Strategien westliche Staaten zur Bekämpfung des Extremismus auf beiden Seiten entwickelt haben.

14.3.1. Die Amman-Message von 2005

Der jordanische König ʿAbdallāh II, der die Amman Message initiierte.

Die erste hier behandelte Deklaration ist vor allem darauf ausgerichtet, islamischen Terroristen die Legitimation zu entziehen, die andere Muslime eigenmächtig zu Ungläubigen erklären und auf dieser Grundlage gegen sie Gewalt ausüben. Die Initiative zu dieser Deklaration, der sogenannten Amman Message, ging vom jordanischen König ʿAbdallāh II ibn al-Husain aus. Er sandte Ende 2004 an 24 muslimische Gelehrte, die verschiedenen Richtungen angehören, drei Fragen, mit der Bitte um Beantwortung, nämlich: (1) Wer ist ein Muslim? (2) Ist es erlaubt, jemanden zum Ungläubigen zu erklären? (3) Wer hat das Recht, Fatwas zu geben? Hierbei spielten Gelehrte der wenige Monate zuvor von Yūsuf al-Qaradāwī gegründeten Internationalen Union muslimischer Gelehrter eine tragende Rolle. Dieser Organisation gehören etwa 70 Gelehrte unterschiedlicher religiöser Denomination an. Auf Grundlage der Fatwas der 24 Gelehrten, zu denen auch der Schiit Ayatollah Sistani und Ahmad ibn Hamad al-Chalīlī, der ibaditische Großmufti des Sultanats Oman gehörten, rief König ʿAbdallāh im Juli 2005 in Amman eine internationale islamische Konferenz zusammen, an der 200 Gelehrte aus fünfzig Ländern teilnahmen. Auf dieser Konferenz mit dem Titel “Wahrer Islam und seine Rolle in der modernen Gesellschaft” wurde die Amman Message verabschiedet. Sie enthält im Wesentlichen drei Punkte:

  • Es werden insgesamt acht autoritative Rechtsschulen anerkannt: vier sunnitische (hanafitisch, malikitisch, schafiitisch, hanbalitisch), zwei schiitische (dschaʿfaritisch, zaiditisch), die ibaditische und die zahiritische. Gleichfalls ist es nicht erlaubt, jemanden zum Apostaten zu erklären, der der aschʿaritischen Dogmatik folgt, die „wahre Sufik“ praktiziert oder „wahrhaftiges salafitisches Denken“ verfolgt.
  • Gegründet auf diese Definition, wird der gegenseitige Takfīr unter Muslimen verboten. Alle Denkschulen sind sich über die Grundlagen des Islams einig. Differenzen bestehen lediglich hinsichtlich der Einzelheiten (furūʿ). Dieser Dissens ist allerdings eine gute Sache.
  • Gegründet auf die anerkannten Rechtsschulen, werden subjektive und objektive Voraussetzungen für die Erteilung von Rechtsgutachten genannt. Damit wird ausgeschlossen, dass religiös nicht ausgebildete Laien Fatwas im Namen des Islams erteilen. Niemand darf Fatwas erteilen, der nicht die persönlichen Voraussetzungen dafür nach einer der acht Schulen erfüllt.

Die Amman Message hat insofern besonderes Gewicht, weil ihr im Dezember 2005 die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) auf einer Gipfelkonferenz zustimmte und sie im Juli 2006 auch von der der OIC angeschlossenen Internationalen islamischen Fiqh-Akademie als Beschluss angenommen wurde. Insgesamt haben sich danach etwa 500 führende muslimische Gelehrte der Amman Message angeschlossen.

Das eigentlich Revolutionäre der Amman Message ist, dass die Anzahl der anerkannten Lehrrichtung von vier auf acht erweitert wurde und nun auch die beiden schiitischen und die ibaditische Lehrrichtung im Fiqh einschließt. Ein bemerkenswerter Zug der Erklärung ist außerdem das Verbot der Verketzerung von Aschʿariten, Sufis und Salafiten. Dies lässt sich als eine Antwort auf den seit Ende des 20. Jahrhunderts verschärften Gegensatz zwischen Aschʿariten/Sufis auf der einen Seite und Salafiten auf der anderen Seite interpretieren, die sich gegenseitig aus dem Sunnitentum ausschließen. Zwar ist die Amman-Erklärung ein wichtiger Schritt in Richtung einer islamischen Ökumente, doch hat er in den Folgejahren militante Anhänger des sunnitischen Islams nicht davon abgehalten, mit Brutalität gegen schiitische Minderheiten vorzugehen. Das Gleiche gilt auch für die Doha-Konferenz vom Januar 2007, eine weitere Initiative zur Ännäherung zwischen den islamischen Lehrrichtungen.

14.3.2. Muslimische Dialoginitiativen und der Offene Brief an al-Baghdādī

Papst Benedikt XVI, der Adressat des Offenen Briefes von 2006

Zwei zweitere Deklarationen, die hier vorgestellt werden sollen, sind muslimische Antworten auf die Regensburger Papstrede vom September 2006. Die erste ist der Offene Brief islamischer Gelehrter an Papst Benedikt XVI. vom Oktober 2006. Er ist von 38 hochrangige islamischen Gelehrten und Geistlichen aus aller Welt unterzeichnet, darunter die Großmuftis der Türkei, Ägypten, Syrien, Oman, Bosnien-Herzegowina und Usbekistan sowie der Vorsitzende der Nahdlatul Ulama in Indonesien. Russland ist durch Rawil Gainutdin vertreten, den Konkurrenten von Talgat Tadschuddin, der 2003 den USA und Großbritannien den Dschihad erklärte hatte (siehe oben 14.1.2.). Gainutdin hat übrigens 2014 als neue Vertretung der russischen Muslime die Geistliche Verwaltung der Muslime der Russischen Föderation ins Leben gerufen, was ihm heute zusätzliche Autorität verleiht.

Der Offene Brief widerspricht zunächst der Darstellung des islamischen Glaubens in der Papstrede. Insbesondere weist er die Vorstellung zurück, der Islam sei eine Religion der Gewalt. Die Behauptung, Muslimen sei befohlen, ihren Glauben „mit dem Schwert“ zu verbreiten, sei unhaltbar. Zwar sei der Islam als politisches Gebilde zum Teil durch Eroberung verbreitet worden, aber der weitaus größere Teil seiner Ausbreitung sei das Ergebnis predigender und missionarischer Tätigkeit gewesen. Die Geschichte zeige, dass zwar einige Muslime islamische Werte verletzt hätten, was Zwangsbekehrung und die Behandlung anderer Religionsgemeinschaften angehe, doch die Geschichte zeige auch, dass dies bei weitem die Ausnahme sei, die die Regel bestätigt. Die Unterzeichnenden bringen in dem Brief ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass es keinesfalls von Gott gewollt sei, andere gewaltsam zum Glauben oder sie wegen ihres Glaubens zu töten. In diesem Zusammenhang verweist der Brief auf das Koranwort, dass in dem Falle, dass jemand ein menschliches Wesen tötet, es sei denn als Vergeltung für Mord oder für das Stiften von Verderben im Land, dies ist, „als habe er die gesamte Menschheit getötet“ (Koran 5:32). Zum Schluss ruft der Brief zu einer Fortführung des Dialogs zwischen Christentum und Islam auf.

Prinz Ghazi ibn Muhammad, der Koordinator der Common-Word-Initiative

Allein die Tatsache, dass sich so viele muslimische Gelehrte aus aller Welt mit einem gemeinsamen Text an den Papst wandten, in der sie sich in dialogisch-theologischer Form mit Aussagen von ihm auseinandersetzten, ist ein Novum in der Geschichte des Islams. Dies zeigt, dass es heute bei muslimischen Gelehrten eine große Bereitschaft gibt, mit Vertretern des Christentums in einen Dialog einzutreten. Bemerkenswert ist auch das Motto, unter das der Brief gestellt ist, nämlich das Koranwort: „Und streitet mit den Leuten des Buches nur in bester Weise“ (Q 29:46). Damit machen sie deutlich, dass sie das Führen des christlich-islamischen Dialogs als Erfüllung eines koranischen Auftrags sehen.

Ein Jahre später, im Oktober 2007, haben 138 islamische Gelehrte und Geistliche einen weiteren Brief an den Papst und eine große Anzahl von Repräsentanten anderer christlicher Kirchen gerichtet. Initiator des Briefes war der jordanische Prinz Ghazi ibn Muhammad, Professor für islamische Philosophie an der Universität von Jordanien. Der Titel dieses Briefes Ein gemeinsames Wort zwischen Uns und Euch ist an das Koranwort in Sure 3:64 angelehnt, das bereits oben (3.2.2.) zitiert wurde: „Sag: O Leute des Buches, kommt her zu einem Wort, das uns und euch gemeinsam ist. Ist es nicht so, dass wir Gott allein dienen, ihm nichts beigesellen und uns nicht untereinander anstelle Gottes zu Herren nehmen?“ Dies stimmt mit dem allgemein Ziel des Briefes überein, nämlich die gemeinsamen Grundlagen von Christentum und Islam herauszustellen. Der Text weist daraufhin, dass Muslime und Christen zusammen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung stellen, und betont, dass es ohne Frieden und Gerechtigkeit zwischen diesen beiden Gemeinschaften keinen echten Frieden in der Welt geben könne. Die Zukunft der Welt hänge daher von dem Frieden zwischen Muslimen und Christen ab. Der Aufruf der islamischen Gelehrten und Geistlichen zum interreligiösen Dialog blieb nicht unbeantwortet. Eine Folge davon war die Gründung des Katholisch-Muslimischen Forums, das bisher vier Mal (2008, 2011, 2014 und 2017) getagt hat.

Viele der Gelehrte, die an der Common-Word-Initiative teilgenommen haben, wandten sich im September 2014 mit einem Offenen Brief an Abū Bakr al-Baghdādī, den selbst ernannten Kalifen der IS-Organisation, sprachen ihm die religiöse Autorität ab, erklärten das IS-Kalifat für nichtig und machten deutlich, dass sie die vom IS verübten Praktiken (Tötung Unschuldiger, offensiver Dschihād, Wiedereinführung der Sklaverei, Folter, Entstellung von Toten usw.) als unvereinbar mit dem Islam betrachten. Ein bemerkenswerter Aspekt des Textes ist, dass den Jesiden darin zum ersten Mal der Status von Ahl al-kitāb zugesprochen wird.[2]

14.3.3. Westliche Strategien gegen Extremismus: die deutsche Islam-Politik als Beispiel

Auch die westlichen Länder haben Programme aufgelegt, um den Extremismus auf beiden Seiten zu bekämpfen. Sie sind vor allem auf die Integration der Muslime in die eigene Gesellschaft ausgerichtet. In Deutschland, das hier als Beispiel behandelt werden soll, rief im September 2006 Innenminister Wolfgang Schäuble die Deutsche Islamkonferenz (DIK) ins Leben. Die Konferenz, die „als langfristiger Verhandlungs- und Kommunikationsprozess zwischen dem deutschen Staat und Vertretern der muslimischen Bevölkerung Deutschlands angelegt“ ist, besteht aus 30 ständigen Teilnehmern, davon 15 Vertretern des Bundes, der Länder und der Kommunen und 15 Vertretern der in Deutschland lebenden Muslime. Als Reaktion auf die Deutsche Islamkonferenz gründeten im April 2007 die vier größten islamischen Organisationen in Deutschland, der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), die Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion (DİTİB), der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IR) und der Verband der Islamischen Kulturzenten (VIKZ) den Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM).

Die DIK befindet sich mittlerweile in ihrer dritten Phase. Während der ersten Phase der DIK, die bis 2010 andauerte, wurden grundlegende Fragen des Zusammenlebens einschließlich der rechtlichen Rahmenbedingungen erörtert und vor allem auch religionspraktische Schwierigkeiten auf Lösungsmöglichkeiten hin untersucht. In der zweiten Phase (2010-2013) ging es schwerpunktmäßig um die Etablierung einer institutionalisierten Kooperation zwischen Staat und Muslimen, Geschlechtergerechtigkeit und Prävention von Extremismus. Die wichtigsten Themen der dritten Phase (ab 2014) sind der Aufbau einer muslimischen Wohlfahrtspflege und einer islamischen Seelsorge.

Ausgehend von den Empfehlungen der DIK wurden mehrere weitere Maßnahmen zur Integration der Muslime in die deutsche Gesellschaft ergriffen, so zum Beispiel der Ausbau des islamischen Religionsunterrichtes an den Schulen. Im Februar 2010 gab der Wissenschaftsrat darüber hinaus die Empfehlung zum Aufbau islamisch-theologischer Zentren in Deutschland, um die „islamische Selbstauslegung“ in das akademische Feld der Universitäten zu integrieren. Auf diese Initiative hin wurden mit finanzieller Unterstützung des Bundes an sieben deutschen Universitäten (Osnabrück, Münster, Frankfurt, Tübingen, Erlangen, HU Berlin, Paderborn) derartige Zentren geschaffen.

Navid Kermani

Bundespräsident Christian Wulff betonte im Oktober 2010 in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung, dass neben Christentum, Judentum inzwischen auch der Islam zu Deutschland gehöre. Integration wird zum Teil auch durch die Rechtsprechung betrieben. Am 11. September 2013 entschied das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig im sogenannten Burkini-Urteil, dass muslimische Schülerinnen regelmäßig keine Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht verlangen können, wenn ihnen die Möglichkeit offensteht, hierbei einen Burkini zu tragen. Hiermit wurde die rechtliche Grundlage für einen Kompromiss in dem Streit um die islamischen Verhüllungsvorschriften gelegt. Mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Navid Kermani wurde 2015 ein muslimischer Intellektueller und Schriftsteller gewürdigt, der sich besonders um die christlich-islamische Verständigung verdient gemacht hat. Er hielt schon im Mai 2014 die Festrede zur Feierstunde 65 Jahre Grundgesetz im Deutschen Bundestag. Ein Antrag der AfD-Fraktion, der auf ein Verbot der „Verbreitung von im Koran enthaltenen gesetzwidrigen Inhalten und Aufrufen“ abzielte, wurde im Oktober 2018 von den anderen Fraktionen des Bundestages entschieden zurückgewiesen.

14.4. Die Zurückdrängung des politischen Islams

14.4.1 Die Internationale des politischen Islams nach dem 11. September

Zum Schluss möchte ich hier auf die Entwicklung des politischen Islams eingehen. Als Ausgangspunkt nehme ich dabei eine Deklaration, die kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 abgegeben wurde. Sie ist von 46 muslimischen Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern unterzeichnet, die zum großen Teil Anführer islamischer Organisationen waren. In dieser Erklärung, die am 14. September 2001 in der Zeitung al-Quds al-ʿArabī erschien, brachten die Unterzeichnenden ihre Bestürzung und ihr Bedauern über diese Anschläge zum Ausdruck und machten deutlich, dass sie diese im Widerspruch zu allen menschlichen und islamischen Werten sahen. Der Islam, so äußerten sie in der Erklärung, verbiete alle Formen der Agression gegenüber Unschuldigen, wie aus dem Koranwort "Und keiner wird die (Sünden)last eines anderen tragen" in Sure 17:15 hervorgehe. Damit stellten sie sich gegen die Argumentation der Islamischen Weltfront, die in ihrer Dschihad-Fatwa vom Februar 1998 (vgl. oben 13.2.6.) das Töten von amerikanischen Zivilisten nicht nur erlaubt, sondern auch zur Pflicht für Muslime erklärt hatte.

Separate Erklärungen, in denen die Anschläge verurteilt wurden, gaben in der gleichen Zeit auch andere muslimische Persönlichkeiten ab, doch gibt es keine Erklärung, die so viele Unterzeichner hat wie diese. Hierzu gehörten Yūsuf al-Qaradāwī, Raschīd al-Ghannūschī, zu dieser Zeit Anführer der Nahda-Bewegung in Tunesien, die Anführer der Muslimbruderschaft in Ägypten, Syrien, Jordanien und Sudan, die Anführer der Jamaat-e-Islami in Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka, Ahmad Yasin, der geistige Führer der Hamas, die Vorsitzenden der Islamischen Partei Malaysias, der indonesischen Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei (PKS), der jemenitischen Islāh-Partei, der marokkanischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, der algerischen Bewegung der Friedensgesellschaft und der Vorsitzende der Föderation Islamischer Organisationen in Europa.

Diese Liste ist nicht nur deswegen interessant, weil sie die Breite der Ablehnung der Anschläge unter den Muslimen zeigt, sondern auch, weil sie ein internationales Netzwerk islamischer Organisationen und Einzelpersonen offenlegt, das so gut koordiniert war, dass es nur zwei Tage brauchte, um diese Erklärung zu organisieren. Man kann dieses Netzwerk als die Internationale des politischen Islams bezeichnen. Fast alle der genannten Organisationen und Parteien haben außerdem einen Bezug zur Muslimbruderschaft. Gemeinsam ist den Unterzeichnenden, dass sie für die Errichtung einer islamischen staatlichen Ordnung kämpfen, jedoch der Auffassung sind, dass dieser Kampf mit politischen Mitteln geführt werden muss. Das ist auch der Grund, warum mehrere der genannten Organisationen als Parteien organisiert sind. Sie sind bereit, sich die Macht auf dem Wege demokratischer Wahlen zu erkämpfen.

Tawakkul Karman 2012

Einige der genannten Organisationen haben schon eine lange Geschichte als Partei hinter sich. Die Islamische Partei Malaysias und die Jamaat-e-Islami beispielsweise sind schon in den 1950er Jahren bei Wahlen angetreten, andere wie die Jamaat-e Islami von Bangladesh, die von 2001 bis 2006 in Bangladesch an der Regierung beteiligt war, die jemenitische Islāh-Partei, die algerische Friedensgesellschaft und die indonesische PKS sind nach 1979 gegründet worden. Wiederum andere Organisationen haben erst nach 2001 die Form einer Partei angenommen bzw. eine eigene Partei gegründet. Dies gilt zum Beispiel für die Hamas, die im Januar 2006 die Wahlen in den Palästinensischen Autonomiegebieten gewann und ab 2007 die Regierung im Gazastreifen stellte. In Ägypten gründete während der Revolution von 2011 die Muslimbruderschaft die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei. Ihr Vorsitzender Muhammad Mursī wurde bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen Ägyptens im Juni 2012 zum Staatspräsidenten gewählt. Die tunesische Nahda-Bewegung, die sich schon in den 1980er Jahren als Partei gegründet, aber damals keine Zulassung erhalten hatte, wurde während des Arabischen Frühlings im März 2011 legalisiert, gewann im gleichen Jahe die erste freie Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung und konnte von 2011 bis 2014 mit Ghannoushi den ersten postrevolutionären Ministerpräsidenten stellen. In mehreren der hier genannten Parteien sind auch Frauen aktiv. Die größte internationale Bekanntheit erlangte die Aktivistin Tawakkul Karman, die 2011 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie war eine Abgeordnete der jemenitischen Islāh-Partei.

Einige Vertreter des politischen Islams haben sich klar gegen religiöse Gewalt ausgesprochen. Ein Beispiel ist Salmān al-ʿAuda, der wie Safar al-Hawālī in den 1990er Jahren zur Sahwa-Gruppe gehört hatte. Anders al-Hawālī hat er sich aber nach 2001 vom militanten Islam gelöst und ist zu einem der schärfsten Kritiker von Usāma ibn Lādin und al-Qāʿida innerhalb des salafistischen Islams geworden. Außerdem hat er mehrfach öffentlich zum Verzicht auf Gewalt bei der Verteidigung des Propheten aufgerufen. Als im September 2012 nach der Ausstrahlung des Muhammad verunglimpfenden Films Innocence of Muslims in mehreren islamischen Ländern amerikanische Botschaften und Konsulate angegriffen wurde, verurteilte er diese Aktionen und betonte, dass die ethischen Lehren des Islams derartige Aggression verböten. Zwar sei es für Muslime berechtigt, Ärger zu empfinden, wenn ihr Prophet beleidigt werde, doch dürfe dieser Ärger nicht in Gewalt umschlagen. Vielmehr sei es notwendig, alle verfügbaren Medien zu nutzen, um die Vision der Organisation zu erreichen, dass nämlich der Prophet "weltweit als der vorbildlichste und bewundernswerteste aller Menschen anerkannt wird."

14.4.2. Die neue Front gegen den politischen Islam nach dem Ende des arabischen Frühlings

Das R4bia-Emblem. Rābiʿa ist der Name des Platzes, auf dem am 14. August 2013 das Rābiʿa-Massaker stattfand. Rābiʿa heißt aber auch "die Vierte", deshalb die vier Finger.

Die politischen Entwicklungen des Arabischen Frühlings schienen zunächst auf eine Stärkung des politischen Islams hinauszulaufen, hatten sie doch in Ägypten und Tunesien der Muslimbruderschaft nahestehende Parteien an die Macht gebracht. Katar hatte die verschiedenen der Muslimbruderschaft zugehörigen Parteien während des Arabischen Frühlings mit seinem Nachrichtensender Al Jazeera unterstützt. Al-Qaradāwī hatte 2011 selbst in Ägypten an der Revolution teilgenommen und ihr ideologische Hilfestellung gegeben, indem er davon sprach, dass nun eine „Jurisprudenz der Revolution“ (fiqh aṯ-ṯaura) entwickelt werden müsste, die den Umbrüchen islamische Legitimität verleiht. Als im Juni 2013 die Tamarrud-Proteste gegen die Regierung von Muhammad Mursī ausbrachen und er kurz danach vom Militär gestürzt wurde, rief al-Qaradāwī die ägyptischen Muslime eindringlich dazu auf, gegen diesen Schritt zu protestieren. Dies führte zu einer heftigen Auseinandersetzung mit ʿAlī Dschumʿa, dem früheren ägyptischen Staatsmufti, und der Azhar, die den Militärputsch unterstützt hatten. Infolgedessen verschlechterten sich auch die Beziehungen zwischen Katar und Ägypten. Der Konflikt zwischen den beiden Ländern um die Frage der Beurteilung der Muslimbruderschaft zog in der Folgezeit immer weitere Kreise, weil sich Saudi-Arabien, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) im Frühjahr 2014 auf die Seite Ägyptens stellten und ebenfalls die Muslimbruderschaft verboten.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan mit dem R4bia-Zeichen

Zunächst konnte dies dadurch ausgeglichen werden, dass umgekehrt die türkische Regierung für die Muslimbruderschaft und Katar Partei ergriff. Zum politischen Symbol für die Unterstützung der Muslimbruderschaft wurde in dieser Zeit das R4bia-Zeichen. Es ist von dem Namen des Rābiʿa-ʿAdawīya-Platzes abgeleitet, auf dem am 14. August 2013 die Übergangsregierung des Militärratschefs Abd al-Fattah as-Sisi ein Blutbad an Unterstützern von Mursī anrichtete. Der türkische Politiker Recep Tayyip Erdoğan, bis 2014 Ministerpräsident, danach Präsident der Türkei, hat dieses Zeichen immer wieder bei öffentlichen Auftritten benutzt, so auch nach dem Putschversuch vom Juli 2016, für die er die Gülen-Bewegung verantwortlich machte. Damit hat er seine Solidarität mit der Muslimbruderschaft zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig seine Partei, die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP), die seit 2001 in der Türkei die Regierung stellt, in die Internationale des politischen Islams eingereiht. 2016 errichtete die Türkei unter Erdoğans Führung auch einen Militärstützpunkt in Katar. Ein symbolsträchtiger Schritt war es, dass er im Juli 2020 die Hagia Sophia in eine Moschee rückumwandeln ließ. Damit kam er einer schon lange erhobenen Forderung seiner Anhänger nach, konnte aber auch international bei Anhängern des politischen Islams punkten.

Vorläufiger Höhepunkt des Konfliktes zwischen den Unterstützern und den Gegnern der Muslimbruderschaft war die Katar-Krise im Juli 2017. Auslöser war, dass die vier Länder Ägypten, Saudi-Arabien, Bahrain und die VAE Katar einen Forderungskatalog mit 13 Punkten übermittelten, der innerhalb von zehn Tagen erfüllt werden sollte. Hierzu gehörten der Abbruch der Beziehung zur Muslimbruderschaft und ihren Zweigorganisationen wie Hamas, die Schließung des Nachrichtensenders Al Jazeera und des türkischen Militärstützpunktes in Doha sowie die direkte Überstellung aller als Terroristen gesuchten Personen des IS, al-Qāʿidas und der Muslimbruderschaft, darunter auch Yūsuf al-Qaradāwī. Die Regierung von Katar weigerte sich, diese Forderungen zu erfüllen. Daraufhin verhängten die vier Länder ein weitreichendes Embargo über Katar. Die Einstufung der Muslimbruderschaft als Terrororganisation und die Katar-Krise hatten übrigens auch in Saudi-Arabien selbst Folgen, weil islamische Gelehrte, die der Muslimbruderschaft nahestehen, hier verhaftet wurden. Eines der bekanntesten Opfer dieser Verhaftungswelle ist der oben genannte Prediger Salmān al-ʿAuda. Er befindet sich seit September 2017 in Haft.

ʿAbdallāh ibn Baiya

Eine besonders aktive Rolle bei der Bekämpfung der politischen Islams spielen auch die Vereinigten Arabischen Emirate. Sie gründeten nach 2013 ein internationales Netzwerk von religiösen Organisationen und Initiativen, um einen „toleranten“, aber auch quietistischen Islam zu fördern, darunter das Forum for Promoting Peace in Muslim Societies (FPPMS), das durch den mauretanischen Scheich ʿAbdallāh ibn Baiya geleitet wird. Er war ein früherer Weggefährte von Yūsuf al-Qaradāwī, der sich während des Arabischen Frühlings jedoch gegen ihn und seine „Jurisprudenz der Revolution“ stellte und zur Entwicklung einer „Jurisprudenz des Friedens“ (fiqh as-salām) aufrief. Dabei bezog er teilweise auch Stellung gegen das Konzept der Demokratie. So sagte er: „In Gesellschaften, die dafür nicht bereit sind, ist der Ruf nach Demokratie im Grunde ein Ruf nach Krieg.“ Da die menschlichen und finanziellen Kosten für die Errichtung der Demokratie in Gesellschaften ohne gemeinsame Grundlage sehr hoch seien, müsse als Grundlage für Frieden und Sicherheit Gerechtigkeit in ihrem islamischen Sinne hergestellt werden. Wie ein internationales Konsortium von Investigativjournalisten in den sogenannten Abu Dhabi Secrets 2023 aufgedeckt hat, haben die Emirate in den Jahren nach 2013 eine internationale Diffamierungskampagne gegen Sympathisanten der Muslimbruderschaft durchgeführt und dabei auch Gelder an westliche Wissenschaftler gezahlt, die über den politischen Islam forschen. Teilweise ergeben sich auch Interessenüberschneidungen mit westlichen Institutionen, die sich der Einhegung des politischen Islams widmen, wie der österreichischen Dokumentationsstelle Politischer Islam.

Ein Problem der islamischen Parteien des Muslimbruderschaft-Netzwerks besteht darin, dass sie sich nicht genügend vom militanten Islam abgrenzen, ja zum Teil selbst dschihadistischen Aktivitäten nachgehen. Dies hat in mehreren Fällen dazu geführt, dass ihnen die politische Anerkennung verwehrt wurde bzw. sie die Macht wieder verloren. Ein Auslöser für die Proteste, die zur Absetzung von Mursī in Ägypten führten, war, dass er ein Mitglied der ehemaligen Terrorgruppe Dschamāʿa Islāmīya zum Gouverneur für die Tourismusregion Luxor ernannt hatte, ausgerechnet dort, wo diese Gruppierung 1996 einen blutigen Anschlag auf Touristen verübt hatte. Die Generäle begründeten ihren Putsch auch damit, dass die Muslimbrüder auf dem Sinai Dschihadisten, die das Militär bekämpften, hatten gewähren lassen. Im September 2013 erklärten sie die Muslimbruderschaft zur Terrororganisation und verboten sie. Ein ähnliches, aber weniger dramatisches Schicksal ereilte die tunesische Nahda-Partei. Sie trat im Januar 2014 selbst aus der Regierung zurück, nachdem man ihr vorgeworfen hatte, den militanten Salafismus im Lande unterstützt zu haben. Unter der Herrschaft des zunehmend autoritär regierenden tunesischen Präsidenten Kais Saied musste sie 2024 ihre Aktivitäten einstellen. Am stärksten zeigt sich der Machtverlust bei der Hamas, deren Herrschaft über den Gazastreifen mehr als 15 Jahre geduldet wurde. Nach ihrem Terrorangriff auf Israel im Oktober 2023, bei dem sie gemeinsam mit dem Islamischen Dschihad über 1100 Menschen tötete und weitere 250 Personen in den Gaza-Streifen entführte, wurden ihre Führungsstrukturen im Israel-Gaza-Krieg weitgehend zerschlagen. In Deutschland und mehreren anderen westlichen Ländern wurde die Hamas verboten.

14.4. Weiterführende Literatur

  • Omar Ashour: “Lions Tamed? An Inquiry into the Causes of De-Radicalization of Armed Islamist Movements: The Case of the Egyptian Islamic Group” in Middle East Journal 61 (2007) 596-625.
  • Gary R. Bunt: iMuslims. Rewiring the House of Islam. Chapel Hill 2009.
  • Brian Fishman: The master plan: ISIS, Al-Qaeda, and the Jihadi strategy for final victory. Yale University Press, 2016.
  • Christoph Günther: Ein zweiter Staat im Zweistromland? Genese und Ideologie des „Islamischen Staates Irak. Würzburg: Ergon 2014.
  • Stig Jarle Hansen: Al-Shabaab in Somalia: The History and Ideology of a Militant Islamist Group, 2005–2012. Oxford University Press, Oxford 2013,
  • Jan-Peter Hartung, Helmut Reifeld (eds.): Islamic Education, Diversity, and National Identity. Dīnī Madāris in India Post 9/11. New Delhi-London 2006.
  • Christina Hellmich: Al-Qaida: vom globalen Netzwerk zum Franchise-Terrorismus. Primus, Darmstadt, 2012.
  • Roel Meijer (Hrsg.): Global Salafism. Islam’s new religious movement. London 2009.
  • Behnam Said: Islamische Ökumene als Mittel der Politik. Aktuelle Tendenzen in der Annäherungsdebatte zwischen Sunna und Schia auf der Doha-Konferenz 2007. Berlin 2009.
  • Thorsten Schneiders (Hrsg.): Salafismus in Deutschland: Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung. Bielefeld, Transcript-Verl., 2014.
  • Riem Spielhaus: Wer ist hier Muslim? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung. Würzburg, Ergon-Verlag, 2011.
  • Oliver Stuke: Islamismus am Horn von Afrika. Al-Shabaabs Rolle für die Entwicklung Somalias. Frankfurt/Main 2011.
  • Ann Marie Wainscott: Bureaucratizing Islam: Morocco and the war on terror. Cambridge University Press, Cambridge, 2017.
  • David H. Warren: "The ʿUlamāʾ and the Arab Uprisings 2011-13: Considering Yusuf al-Qaradawi, the ‘Global Mufti,’ between the Muslim Brotherhood, the Islamic Legal Tradition, and Qatari Foreign Policy" in New Middle Eastern Studies 4 (2014) 2-32. Digitalisat
  • David Warren: Rivals in the Gulf: Yusuf al-Qaradawi, Abdullah Bin Bayyah, and the Qatar-UAE Contest Over the Arab Spring and the Gulf Crisis. London: Routledge 2021.

14.5. Aufgaben/Fragen

1. Geben Sie einen Überblick über die Geschichte des Qāʿida-Netzwerks.

2. Erklären Sie, wie die IS-Organisation entstanden ist und welche Ziele sie verfolgt.

3. Was sind die wichtigsten Inhalte der sogenannten Amman Message und zu welchen religiös-politischen Entwicklungen steht sie in Beziehung?

4. Stellen Sie anhand eines historischen Rückblicks heraus, inwieweit zwischen der Zunahme des militanten Islamismus und der Zunahme von antiislamischen Tendenzen eine zeitliche Korrelation besteht.

5. Deutschland entwickelte nach dem 11. September 2001 eine eigene Politik zur Integration der Muslime in die Gesellschaft. Erklären Sie, woraus sie besteht.

6. Geben Sie einen Überblick über die Geschichte der Muslimbruderschaft von ihren Anfängen bis heute.

7. Beschreiben Sie die Entwicklung der türkischen Religionspolitik seit der Gründung der Republik bis heute mit Hinblick auf den Islam.

  1. Eine Zusammenfassung des Textes wurde 2005 auch auf Spiegel-Online veröffentlicht, siehe hier
  2. Der Offene Brief ist hier einsehbar. Eine deutsche Übersetzung findet sich hier.